Formel 1: Ferrari am Tiefpunkt

Ferrari hat beim Rennen in Spa ein Desaster erlebt und ist einer Demütigung nur knapp entgangen. Das Problem der Scuderia: Sie haben nicht nur eins.

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Formel 1: Ferrari am Tiefpunkt

Ferrari auf Talfahrt Richtung Eau Rouge: Der Handlungsbedarf ist riesig.

(Bild: Ferrari)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Martin Franz
Inhaltsverzeichnis

Schon bevor Ferrari die Reise ins belgische Spa antrat, wusste man: Das wird kein einfaches Wochenende für das Team. Die anspruchsvolle Rennstrecke mit ihren mehr als 100 Metern Höhenunterschied und einigen extrem schnell zu durchfahrenden Kurven legt Chassis- wie Motorenprobleme gleichermaßen brutal offen, und davon hat Ferrari derzeit überreichlich. In den vergangenen Rennen konnte Charles Leclerc das mit etwas Glück noch umfahren, in Spa nicht mehr.

Im Qualifiying kamen beide Fahrer nur mit Mühe in den zweiten Teil, doch mehr als Platz 13 und 14 war nicht drin. Im Rennen entging man nur durch eine Safety-car-Phase der Demütigung einer Überrundung – wohlgemerkt auf einer Strecke, auf der Leclerc 2019 gewonnen hat. In diesem Jahr fuhren den Ferraris teilweise selbst Teams davon, die mit Ferrari-Motoren unterwegs sind. Dabei war bei der Abstimmung alles auf Abtrieb gesetzt worden, Vettel und Leclerc waren auf der langen Geraden hinter Eau Rouge somit leichte Opfer, ohne im folgenden Abschnitt mit vielen Kurven davon zu profitieren.

Die Abstimmung war eine Verzweiflungstat, weil man sich bei Ferrari der Probleme natürlich bewusst ist. Eine Baustelle betrifft den Antrieb, dem es schlicht an Leistung fehlt. Das lässt sich kurzfristig nicht so ohne weiteres kurieren, denn die Motorenentwicklung ist eingefroren. Verändert werden darf nur etwas, wenn es Probleme bei der Zuverlässigkeit gibt – ausgerechnet da scheint Ferrari aber derzeit keine Sorgen zu haben. Zwar kann man solche Maschinen-Scherereien provozieren, doch das ist ein riskanter Weg. Denn man müsste glaubhaft machen können, woher urplötzlich Probleme kommen, die man sie zuvor nicht hatte. Zudem darf sich Ferrari des Protestes der anderen Teams absolut sicher sein, wenn bei einer Zuverlässigkeits-Verbesserung mit einem Mal mehr Leistung da ist. Ferrari selbst hält derzeit am Racing-Point-Protest hartnäckig fest, was bei anderen Teams für Unmut sorgt.

Mindestens ebenso dramatisch ist aber, dass die Fahrer die Probleme beim Chassis nicht eingrenzen können. Es ist die Höchststrafe für alle Beteiligten, wenn es nicht eine Baustelle gibt, sondern das gesamte Paket nicht konkurrenzfähig ist. Hier an den richtigen Stellen anzusetzen, ist eine Herausforderung, zumal im emotional schnell eskalierenden Italien. Der Rückstand ist indes so gewaltig, dass Ferrari in diesem Jahr keine vorderen Plätze mehr herausfahren wird, am kommenden Wochenende in Monza schon gleich gar nicht. Die Strecke dort gehört zu jenen mit einem besonders hohen Vollgasanteil, Motorleistung ist hier besonders entscheidend.

Ferrari kann die Saison 2020 abschreiben und hat das wohl weitgehend auch schon getan. Sebastian Vettel deutete es im Interview nach dem Rennen in Spa beiläufig an. Es bleibe nichts weiter als zu versuchen, das vorhandene Paket zu optimieren. Das klingt nun wirklich nicht so, als wenn Ferrari in den kommenden Wochen den Problemen mit einer Flut von Neuheiten begegnen wollte. Was für diese These spricht, ist die angedeutete Ratlosigkeit, wo ganz genau es derzeit hakt. Leclerc und Vettel haben an diesem Wochenende viele verschiedene Setup-Veränderungen vorgenommen, doch keine brachte den Durchbruch in den Rundenzeiten.

Vom Kampf um die Weltmeisterschaft ist Sebastian Vettel derzeit denkbar weit entfernt.

(Bild: Ferrari)

Auf ein paar Konstanten und Hoffnungen kann Ferrari aber bauen. Zum einen liegt die derzeitige Erlahmung nicht an den Fahrern. Sebastian Vettel mag – auch verursacht durch die psychische Belastung der gesamten Situation – sich nicht in der Form seines Lebens befinden, doch das Fahren hat der vierfache Weltmeister sicher nicht verlernt. Sein junger Teamkollege Charles Leclerc scheint talentiert genug, bei entsprechendem Material um die Weltmeisterschaft mitzufahren. Carlo Sainz, der Vettel im kommenden Jahr bei Ferrari ersetzen wird, muss seine Rolle noch finden. Die aktuelle Performance der Scuderia wird ihn vermutlich hin und wieder zweifeln lassen, ob der Weggang von seinem derzeitigen Team McLaren ein guter Schritt war.

Der Ferrari SF1000 ist nicht konkurrenzfähig. Das Problem: Es gibt nicht eine Baustelle, sondern viele. Das macht eine schnelle Lösung so schwierig.

(Bild: Ferrari)

Im kommenden Jahr greift ein neues Reglement. [Korrektur]: Ab 2022 greift ein neues Reglement, das ursprünglich ab dem kommenden Jahr gelten sollte und durch die Corona-Pandemie verschoben wurde. Solche Änderungen haben in der Vergangenheit oftmals neue Teams nach vorn gespült und Seriensieger auf die Plätze verwiesen. Irgendwann reißt jede Siegesserie, und die von Mercedes hält schon ungewöhnlich lang. Der Profiteur muss freilich nicht zwangsläufig Ferrari sein.

Böswillig könnte man formulieren, dass Ferrari zumindest einen Vorteil hat: Weiter abwärts als aktuell geht es kaum. Die stolze Scuderia hat so viel kluges Personal, dass die Chance da ist, sich aus diesem Tal der Tränen auch wieder hochzuarbeiten. Eine ehrliche interne Analyse wird offenlegen, dass die aktuelle Situation spätestens mittelfristig nicht ohne personelle Konsequenzen bleiben kann. Es ist leicht, Mattia Binotto zum Schuldigen auszurufen. Ein Ersatz könnte die sportliche Talfahrt aber auch nicht rasch beenden.

Ferrari-Teamchef Mattia Binotto betonte nach dem Rennen, Ferrari wäre nicht in einer Krise. Die Resultate der bisherigen Saison sprechen eine andere Sprache.

(Bild: Ferrari)

Doch Binotto vereint derzeit zu viele Positionen auf sich. Ein erster Schritt wird sein, eine Aufgabenteilung vorzunehmen. Dass diese kommt, ist nur noch eine Frage der Zeit, auch wenn der Teamchef selbst davon noch zu überzeugen ist: „Wir stecken nicht in einer Krise. Wir kennen unseren Kurs und müssen diesen beibehalten, indem wir nach vorne blicken“, sagte Binotto gegenüber RTL. Diese tapfer vorgetragene Ansicht dürfte er angesichts der momentanen Verfassung der Scuderia relativ exklusiv haben. Die beiden kommenden Rennen werden in Italien ausgetragen. Sollte Ferrari dort abschneiden, wie es aktuell zu befürchten ist, wird Binotto gute Argumente brauchen, um radikale Schritte seiner Vorgesetzten abzuwenden.

(mfz)