Atomkraft: 10 Jahre Super-GAU in Fukushima und Deutschlands Kernkraftwendewende

Vor Fukushima meinte Angela Merkel, ein solcher Unfall passiere in einem Hightech-Land nicht. "Jetzt ist es eingetreten", sagte sie und verkündete den Ausstieg.

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Block 3 des AKW Fukushima Daiichi explodiert.

(Bild: Nippon TV)

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Inhaltsverzeichnis

Am 11. März 2011 um 14.46 Uhr Ortszeit, 6.46 Uhr MEZ erschütterte ein Seebeben der Magnitude 9 den Norden der japanischen Hauptinsel Honshu. Das Epizentrum des Tohoku-Bebens lag 163 Kilometer entfernt vom AKW Fukushima Daiichi. Das Beben war die viertstärkste jemals auf der Erde registrierte seismische Erschütterung und stärker als alle zuvor in Japan gemessenen.

Vertikalbewegungen der Erdkruste setzten große Wassermassen in Bewegung. Um 15.27 Uhr und 15.35 erreichten zwei Tsunamiwellen die nördliche Ostküste der Insel. 560 km2 Festland wurden überflutet, 20.000 Menschen wurden getötet oder vermisst, 160.000 Menschen mussten sofort in Notunterkünften untergebracht werden.

Die Kettenreaktion in den Reaktorblöcken 1 bis 3 des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi, die zu der Zeit in Betrieb waren, wurde wie vorgesehen nach dem Beben schnellabgeschaltet. Durch das Erdbeben wurde das AKW vom öffentlichen Stromnetz getrennt, schildert das Bundesamt für Strahlenschutz. Die Reaktorblöcke 1 bis 4 wurden von etwa 13 Meter hohen Tsunamiwellen getroffen; die höher gelegenen Blöcke 5 und 6 wurden rund einen Meter hoch überschwemmt. Durch die Tsunamiwellen wurden die Dieselaggregate, die Notstrom-Schaltanlagen, die Batterien und die Kühlwassersysteme für die Notstromdieselaggregate überflutet.

Dadurch fielen ab 15.36 Uhr mit wenigen Minuten Abstand in den Blöcken 1 bis 4 die Notstromdieselaggregate aus und damit die Kühlung der Brennelemente in den Reaktorkernen und den Brennelemente-Lagerbecken, die ebenfalls gekühlt werden müssen. Allein im Abklingbecken von Block 4 lagerten 292 Tonnen hochradioaktive Brennelemente, wie Greenpeace erläuterte. In den Blöcken 1, 2 und 3 überhitzten innerhalb von drei Tagen die Reaktorkerne, Kernmaterial wurde über 2000 °C heiß und schmolz. Durch den Stromausfall war auch eine Überwachung der Anlagenparameter nicht mehr möglich.

Der Super-GAU von Fukushima (77 Bilder)

Das AKW Fukushima Daiichi mit seinen sechs Reaktorblöcken vor der Katastrophe. Es liegt Luftlinie rund 250 km von Tokio entfernt. Alle sechs Blöcke basieren auf den Siedewasserreaktor-Baureihen BWR 3 bis BWR 5 des US-Unternehmens General Electric; gebaut wurden sie zwischen 1971 und 1979. Block 1 sollte ursprünglich Ende März 2011 stillgelegt werden, die japanischen Behörden genehmigten Februar 2011 aber eine Laufzeitverlängerung um zehn Jahre.
(Bild: dpa)

In den Blöcken 5 und 6, die sich wie Block 4 zu dem Zeitpunkt in Revisionsstilland befanden, fiel die Notstromversorgung ebenfalls größtenteils aus. Ein verbliebener Notstromdiesel wurde für die Blöcke 5 und 6 abwechselnd benutzt, dadurch konnten dort schwere Kernschäden vermieden werden. In den von der Naturkatastrophe betroffenen AKW Onagawa und Higashi-Dori richteten das Erdbeben und der Tsunami vergleichsweise geringe Schäden an, diese konnten gesichert werden.

In den Blöcken 1 bis 3 des AKW Fukushima Daiichi ereigneten sich nach partiellen Kernschmelzen, die zu hohen Temperaturen und chemischen Reaktionen führten, Wasserstoffexplosionen, die große Teile und Einrichtungen zerstörten oder beschädigten. Im Block 4 gab es ebenfalls eine Wasserstoffexplosion. Die vier Anlagen wurden vollständig zerstört, große Mengen Radioaktivität wurden in die Atmosphäre freigesetzt, insbesondere Radionuklide der Elemente Jod-131, Tellur-132, und Cäsium-134/137.

Während Jod-131 eine Halbwertszeit von acht Tagen und Tellur-132 von drei Tagen hat – das Zerfallsprodukt Jod-132 zwei Stunden –, weist Cäsium-137 eine Halbwertzeit von rund 30 Jahren auf. Cäsium-134 wurde ungefähr in gleicher Menge wie Cäsium-137 in die Luft freigesetzt, hat aber eine Halbwertszeit von zwei Jahren. Heute ist vor allem noch Cäsium-137 für die erhöhte Strahlung im Gebiet um das AKW Fukushima Daiichi verantwortlich; besonders das umliegende Bergland lässt sich schlecht dekontaminieren. Über den Blöcken 1 und 4 wurden provisorische Überbaukonstruktionen errichtet. Die Schäden an der Gebäudehülle von Block 2 sind beseitigt. Block 3 wird zurzeit eingehaust.

In der ersten Phase bis etwa Ende März 2011 wurden immer wieder sehr hohe Strahlungswerte gemessen. Vor allem in den ersten Tagen traten Spitzenwerte der Ortsdosisleistung (ODL) von bis zu 12 Millisievert pro Stunde auf – der gesetzliche Jahresgrenzwert für die Strahlendosis einer beruflich strahlenexponierten Person wäre in dem Fall bereits nach etwa 100 Minuten erreicht, schildert die Gesellschaft für Reaktorsicherheit.

Jod-131, Cäsium-134, Cäsium-137 und Strontium-90 wurden als Kontamination des zur Notkühlung eingespeisten Wassers freigesetzt. Große Mengen kontaminierten Wassers haben sich über Leckagen der Sicherheitsbehälter in den Gebäuden angesammelt. Im März/April 2011 floss stark kontaminiertes Wasser ins Meer.

Der Zufluss von Grundwasser in die Gebäude wurde inzwischen erheblich reduziert. Zudem läuft eine Reinigungsanlage für das kontaminierte Wasser, das aus dem Gebäude wieder austritt. Damit kann radioaktives Cäsium fast vollständig herausgefiltert werden. Das im Kühlwasser enthaltene Tritium lässt sich nicht mit den üblichen Reinigungsmethoden herausfiltern. Wasser, das nach der Behandlung nicht wieder zur Kühlung der Reaktoren eingespeist wird, wird daher auf dem Anlagengelände in verschiedenen Behältern zwischengelagert.

Der Unfall im AKW Fukushima Daiichi wurde auf die höchste Stufe 7 "Katastrophaler Unfall" auf der internationalen Meldeskala INES eingestuft, die bis dahin nur der Super-GAU von Tschernobyl im April 1986 erreicht hatte. Im September 2018 anerkannte die japanische Regierung den ersten Todesfall im Zusammenhang mit den Super-GAU. Ein früherer Mitarbeiter sei beim Einsatz an dem Unglücksreaktor atomarer Strahlung ausgesetzt gewesen und habe dadurch einen Lungenkrebs entwickelt. Der benachbarte Standort Fukushima Daini mit vier Reaktorblöcken kam ohne größeren Schaden davon und wurde auf der INES-Skala auf Stufe 3 eingeordnet.

Die Berichterstattung auf heise online vor zehn Jahren