Schule digital: Wie ein Lock-In an Schulen der Gesellschaft schadet

Was kurzfristig den Unterricht sichern soll, wird langfristig negativ auf unsere Bildung und unsere Gesellschaft wirken. Chaos macht Schule zeigt Auswege.

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(Bild: Neirfy/Shutterstock.com)

Lesezeit: 26 Min.
Von
  • Thomas Freihorst
  • Steffen Haschler
  • Benjamin Schlüter
Inhaltsverzeichnis

Überstürzt wurden in den vergangenen Wochen und Monaten an Schulen neue Geräte und Software angeschafft, um in der Coronavirus-Pandemie Distanzunterricht oder auch Hybridunterricht zu ermöglichen. Doch was den Unterricht während der Pandemie schnellstmöglich sichern sollte, wird auf lange Zeit negative Auswirkungen auf unser Bildungswesen und unsere freiheitlich-demokratische Gesellschaft haben. Wir verschärfen dadurch den Lock-In-Effekt. Aber was ist der Lock-In-Effekt eigentlich?

Der Begriff des Lock-In-Effekts stammt aus der Betriebswirtschaft und den Wirtschaftswissenschaften. Ein Lock-In bindet Kund:innen an ein bestimmtes Produkt, weil sich ein Wechsel zu einem Konkurrenzprodukt wirtschaftlich nicht lohnt. Erreicht wird dies durch fehlende Interoperabilität zwischen den Produkten. Klassische Beispiele dafür sind Rasierklingen oder Objektive für Fotokameras, die nur mit den Produkten eines einzelnen Herstellers kompatibel sind.

Um Kund:innen für diese Abhängigkeiten zu gewinnen, werden sie zumeist mit attraktiven Startangeboten gelockt. Die Folgekosten werden bei Kaufentscheidungen selten mitkalkuliert. Langfristig profitieren daher die Hersteller von der Bindung mehr als die Kund:innen. Solche Lock-In-Bindungen gibt es im Informationszeitalter natürlich auch bei Hardware- und Software-Produkten.

Wenn gerade Technologien an Schulen überhastet eingeführt werden, möchten die Bildungsverantwortlichen nur sicherstellen, dass Distanzunterricht in Zeiten der Pandemie stattfinden kann, bevor die Schulen in nicht allzu ferner Zukunft wieder zum klassischen Unterricht – also dem analogen Präsenzunterricht – zurückkehren können. Tatsächlich vollziehen die Schulen dabei unbemerkt eine überstürzte Transformation vom Industriezeitalter zur Informationsgesellschaft, bei der Entscheidungen getroffen werden, die aufgrund von Lock-In-Effekten nur mit hohen Kosten und viel Mühe rückgängig gemacht werden können.

Chaos macht Schule

Chaos macht Schule (https://ccc.de/schule) ist ein seit über 10 Jahren bestehendes Bildungsprojekt des Chaos Computer Clubs (https://ccc.de/). Ziel des Projekts ist die Förderung von Technikbegeisterung und digitaler Mündigkeit, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen. Bis zur Pandemie führte Chaos Macht Schule regelmäßig Workshops in Bildungseinrichtungen durch. Da das Projekt dezentral in über 15 Städten läuft, gewinnen die ehrenamtlichen Hacker*innen bei ihrer Arbeit wertvolle Einblicke in unser bundesweites Schulsystem, auch in Bezug auf den unterschiedlichen Umgang mit neuen Technologien. Darüber hinaus berät CmS Bildungspolitiker und -verantwortliche zu Fragen in der Schnittmenge aus Technologie und Bildung. Zu Beginn der Pandemie haben viele Mitglieder von CmS ihre Energie für das Bereitstellen von schnellen und guten Lösungen für unsere Schulen eingesetzt wie bspw. Cyber4Edu in Berlin oder der Chaos Computer Club Mannheim in der Metropolregion Rhein-Neckar.

Viele Technologiefirmen sehen gerade in der Pandemie eine echte Chance in die Bildungseinrichtungen drängen zu können, preisen deshalb offensiv ihre Lösungen an und bieten sogar direkte Hilfe für die Erstellung von Medienentwicklungsplänen. Dabei haben viele dieser Firmen in der Vergangenheit bereits Produkte an Schulen verkauft, die sich als nicht praxistauglich erwiesen haben, wie zum Beispiel die interaktiven Tafeln der Firma SMART. Dem hohen Absatz lag ein gutes Marketing zugrunde und kein stimmiges Konzept für Schulen.

Solchen Firmen ist es wichtiger, ihre Produkte zu verkaufen, als dass ein nachhaltiges und passgenaues Medienkonzept für eine Schule entsteht. Dass solche Angebote dennoch gerne von Entscheider:innen angenommen werden, liegt daran, dass es ihnen an informatischen Fachkenntnissen, an pädagogisch-didaktischer Erfahrung oder an Zeit fehlt – meistens sogar an allem, denn die digitale Transformation der Schulen wurde über Jahrzehnte verschleppt.

Lock-In-Effekte gab es im Schulsystem natürlich schon immer. Schließlich sind Schulen Orte, zu denen nur wenige Dienstleister wie beispielsweise Schulbuchverlage Zugang erhalten. Denn mit Einführung eines bestimmten Schulbuches wird das Curriculum des Faches mit festgelegt und Lehrkräfte erstellen passend dazu Arbeitsblätter, Klausuren und mehr. Das festigt die Bindung an das Buch weiter. Die Geschäftsmodelle dieser Dienstleister sind auch auf den Erhalt dieser Exklusivität ausgerichtet und erschweren so Innovation. Bei den Schulbüchern wird unter anderem mit entsprechenden Lizenzen die Entstehung von freien Bildungsmaterialien, die auf den Lernplattformen dringend gebraucht werden, erschwert.

Artikelserie "Schule digital II"

Wie sollte die Digitalisierung in unseren Schulen umgesetzt werden? Wie beeinflusst die Coronavirus-Pandemie das Geschehen? Was wurde im Schuljahr 2020/2021 erreicht - wie ging es 2021/2022 weiter? Das möchte unsere Artikelserie beleuchten.

Der sich jetzt abzeichnende Technologie-Lock-In in Schulen wird allerdings deutlich stärker ausfallen als die seit Jahrzehnten bestehenden Lock-In-Probleme wie bei dem oben erwähnten Schulbuch. Nicht nur bilden sich langfristige Abhängigkeiten aus, sondern die angeschafften Techniklösungen prägen neben den Lehrplänen für eine lange Zeit auch die Einstellungen ihrer Nutzer:innen.

Die Lock-Ins durch neu angeschaffte Hardware zeichnen sich bereits in vielen Städten ab. Denn sie setzen für ihre Schulen vermehrt auf Tablets wie das iPad von Apple. Gute Gründe gibt es: Die Geräte sind robust und durch ihr abgeschlossenes Betriebssystem können Nutzer:innen wenig kaputt machen. Grundschulen schätzen an iPads, dass diese einfach zu bedienen sind und die iOS-App-Welt gut gemachte Anwendungen für ihren Unterricht bereithält. Da es sich bei Apple um eine begehrte Marke handelt, nutzen Schulträger diese auch gerne als Werbung für ihre Schulen.

Dass das Betriebssystem ziemlich abgeschottet ist und jegliche Logik von Datei- und Ordnerstrukturen versteckt, womit das Gerät zu einer smarten Blackbox wird, spielt für sie nur eine untergeordnete Rolle. Dies ändert sich mit dem Alter der Schüler:innen. Da sich Schulen aber als Ganze für einen Endgerätetyp für ihre Lehrkräfte entscheiden müssen, sind die Schwierigkeiten im Kollegium vorprogrammiert, wenn zum Beispiel eine MINT-Lehrkraft einen Laptop mit einem freien Betriebssystem möchte.

Einige Schulträger gehen noch einen Schritt weiter und nehmen zusätzlich Produkte wie AppleTV direkt in ihren Medienentwicklungsplan auf (Siehe etwa die Stadt Hannover, 1000-2020, 2754-2020). Durch solche Maßnahmen werden andere Endgeräte systematisch ausgeschlossen und Umgebungen etabliert, welche die Handlungsmöglichkeiten der Lehrkräfte stark einschränken. Für einen späteren Kurswechsel müsste die angeschaffte Infrastruktur in Teilen ausgetauscht werden und es würde wiederum eine Einarbeitung in ein neues System stattfinden müssen. Dies trifft natürlich auch auf die Expertise der IT-Abteilung des Schulträgers zu, die nur einseitig auf ein bestimmtes System trainiert wird.

An den meisten Schulen fehlen immer noch Vollzeit-Administrator:innen. Einerseits werden diese Stellen für Schulen von den Kommunen gar nicht erst geschaffen, andererseits sind diese bei IT-Fachkräften finanziell gesehen häufig nicht konkurrenzfähig. Dies führt dazu, dass von unterdimensionierten kommunalen IT-Abteilungen einfache Lösungen bevorzugt werden, die mit dem bestehenden Personal umgesetzt werden können. Es werden beispielsweise einfach bedienbare Mobile-Device-Management-Systeme eingeführt, die aber nur eine Monokultur wie iPads ermöglichen. Wie so oft wird Geld nicht in eigenes Personal, sondern in Lizenzen internationaler Konzerne investiert

Um nicht in die Gefahr eines Hardware-Lock-Ins zu laufen, muss die Infrastruktur eine Diversität an Endgeräten zulassen. Als Faustregel sollte gelten: Hardware und Software müssen voneinander unabhängig betreibbar sein. Dadurch wird das gesamte System flexibler und somit resilienter – Veränderungen werden leichter umsetzbar. Es gibt mehrere Schulen in Deutschland, die sich hierbei auf einem sehr guten Weg befinden wie zum Beispiel das Georg-Büchner-Gymnasium Seelze nahe Hannover, das den Weg einer Linux-Schule geht und eine nachhaltige Digitalisierung anstrebt.

Generell sollte bereits bei der Wahl der Hardware in Schulen auf Fragen wie "Wer macht was mit meinen Daten?" und auf Reparierbarkeit beziehungsweise den Umweltschutz insgesamt geachtet werden. Hier fehlt es an klaren Vorgaben seitens der Ministerien, obwohl einige Länder bereits pro Klima handeln möchten. In der Verfassung von Niedersachsen steht beispielsweise: "In Verantwortung auch für die künftigen Generationen schützt das Land das Klima und mindert die Folgen des Klimawandels."

Mit in die Auswahl der Endgeräte sollten auch Themen wie Konfliktmaterialien, Menschenrechtsverletzungen, Kinderarbeit einfließen (Greenpeace – Guide to Greener Electronics, PDF). Denn auch Schulen haben als Teil unserer Gesellschaft eine Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen, wie es immer wieder von Fridays for Future gefordert wird.

Zur Auswahl der Endgeräte gibt es unsererseits Empfehlungen. Bei Tablets hat sich ein Herstellersupport für das Betriebssystem von längstens 5 Jahren etabliert. Diesen Zyklus gibt meist nicht die eigentliche Hardware vor, sondern der Hersteller und so wird nach dieser Zeit trotz intakter Hardware ein neues Tablet angeschafft. Felix Schoppe, Lehrer am Georg-Büchner-Gymnasium, berichtet dazu: "Wir leben digitale Nachhaltigkeit vor. Wir installieren und reparieren unsere Laptops zusammen mit Schülerinnen und Schülern und zeigen, dass man selbst zehn Jahre alte Business-Notebooks noch aktiv einsetzen kann. In Verbindung mit GNU/Linux verleiht man so vermeintlichem Elektroschrott ein neues Leben."

Dabei geht es nicht darum, bestimmte Endgerätegruppen aus unseren Schulen zu verbannen. Eine Schule könnte Endgeräte mit GNU/Linux besonders fördern, aber allen am Schulleben Beteiligten trotzdem die Wahl selbst überlassen. Zudem werden Spezialgeräte wie Grafiktablets für das Fach Kunst oder Festrechner für die Informatik vorgehalten.

Für die Umsetzung eines solchen Szenarios bedarf es natürlich entsprechender Ressourcen. Computer-AGs können die Schul-IT unterstützen und sich sogar an der Weiterentwicklung von freier Software beteiligen. Dies wird von einigen Schulen, wie dem Katharineum aus Lübeck schon seit Jahren erfolgreich praktiziert wie der stellvertretende Schulleiter Frank Poetzsch-Heffter berichtet: "In der Arbeit der Computer AG sehe ich eine Win-Win-Situation: Einerseits fördern wir Begabungen bis hin zu Kontakten in den Profibereich, andererseits erhalten wir wichtige Impulse für die Wartung und Verbesserung der IT-Technik."

Zusätzlich bedarf es ausgebildeter Techniker:innen, die den Schulen zur Verfügung stehen, wenn es um Grundsätzliches geht. Des Weiteren können Schulassistent:innen für den First-Level-Support ausgebildet werden und es könnte ein Freiwilliges Technisches Jahr an Schulen etabliert werden, auch für ältere Menschen, die aus ihren Berufen mit viel Fachwissen ausscheiden.