Überwachungsspirale: Ständige "Politik gegen die Grundrechte" in der Kritik

Mit Mitteln wie Staatstrojanern, Vorratsdatenspeicherung und Bürgernummer betreibe Schwarz-Rot verfassungswidrige Politik, heißt es im neuen Grundrechte-Report.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 41 Kommentare lesen

(Bild: Zolnierek/Shutterstock.com)

Lesezeit: 6 Min.
Inhaltsverzeichnis

Der Linken Petra Pau war jüngst der Kragen geplatzt: Immer wieder beschlössen Mehrheiten im hohen Haus "deutlich grundrechtswidrige Gesetze", beklagte die Bundestagsvizepräsidentin beim Beschluss der Registermodernisierung. Diese kassiere das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Folge. Trotzdem werde bei der Überwachung ständig nachgelegt. Diesen Bogen spannen die Autoren des am Mittwoch veröffentlichten Grundrechte-Reports 2021 an mehreren Beispielen weiter.

Michael Kuhn, Referent beim Bundeslandwirtschaftsministerium, beleuchtet in dem "alternativen Verfassungsschutzbericht" das Registergesetz, mit dem der Bundestag mit der Mehrheit der Großen Koalition die Steuer-ID als übergreifendes "Ordnungsmerkmal" und Personenkennziffer (PKZ) in gut 50 relevante Datenbanken der öffentlichen Hand inklusive der Fahrzeug- und Melderegister eingeführt hat. Der Jurist verweist etwa auf die Anhörung zu dem Vorhaben, in der Sachverständige schwerwiegende verfassungsrechtliche Bedenken gegen den Entwurf vorbrachten.

So habe das BVerfG schon 1983 im Volkszählungsurteil hervorgehoben, dass gerade die Zusammenführung von Daten aus verschiedenen Registern einen schwerwiegenden Eingriff in den Schutzbereich des damals neu geschaffenen Rechts auf informationelle Selbstbestimmung darstelle, schreibt Kuhn. Damit verknüpft hätten die Karlsruher Richter ein Verbot eines einheitlichen Personenkennzeichens, wie es nun die als Bürgernummer gebrauchte Steuer-ID darstelle.

Es sei genau diese mit dem Gesetz geschaffene Zusammenführungsmöglichkeit großer Datenmengen "auf Knopfdruck", die die besondere Gefahr der modernen Datenverarbeitung ausmachten, hebt der Jurist hervor. Die PKZ setze hier eine Lawine in Gang, unter der das informationelle Selbstbestimmungsrecht begraben zu werden drohe. Für Kuhn steht so fest: "Sehenden Auges wird gegen die Vorgaben des BVerfG verstoßen, die von ihrer Aktualität nichts verloren haben."

Ähnliche Bedenken mit schier gleichem Wortlaut äußerten Rechtswissenschaftler jüngst bei einer Anhörung zu einem Gesetz, mit dem alle Geheimdienste von Bund und Ländern die Lizenz zum Einsatz von Staatstrojanern erhalten sollen. Kerstin Demuth vom Verein Digitalcourage kritisiert in ihrem Beitrag vor allem, dass Telekommunikationsanbieter mit diesem Entwurf dazu verpflichtet würden, bei der Installation der Schadsoftware zu helfen: "Ein Unbehagen, wenn Updates und neue Programme installiert werden, wäre dann leider angemessen."

Zugleich gerieten die Diensteanbieter in die höchst unangenehme Lage, zwischen zwei möglichen Rechtsbrüchen entscheiden zu müssen, erläutert die Aktivistin: "Wenn sie sich weigern, bei der Staatstrojaner-Installation die Behörden zu unterstützen, riskieren sie eine Klage, weil sie sich einer Anordnung nach dem G-10-Gesetz widersetzen. Lassen sie sich hingegen zum Erfüllungsgehilfen machen, sind sie mitschuldig, wenn eine Anordnung sich doch als rechtswidrig herausstellt."

Mit der Initiative werde "die globale IT-Sicherheit ebenso geschwächt wie das persönliche Vertrauen in unsere Geräte", moniert Demuth. Jeder Staatstrojaner sei ein Angriff auf das Computer-Grundrecht. Was die Geheimdienste mit dem kompromittierten Gerät machten, sei für Betroffene ebenso wie für demokratische Kontrollorgane weitgehend undurchsichtig. Besonders unverständlich sei "die Ungeduld der Großen Koalition" angesichts der Tatsache, dass gegen vergleichbare Regeln im Bereich Strafverfolgung noch mehrere Verfassungsbeschwerden anhängig seien. Für sich genommen sei das Vorhaben ein "schmerzhafter Schlag gegen die Abwehrrechte der Bürger". Im Kontext mit weiteren Maßnahmen staatlicher Überwachung sei es "schlicht zu viel".

Stefan Hügel vom Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF) beschreibt die "Politik gegen die Grundrechte" am Fall der Vorratsdatenspeicherung. Obwohl der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Rechtswidrigkeit dieses Instruments mehrfach festgestellt habe, forderten Sicherheitspolitiker ständig neue einschlägige Bestimmungen und beschlössen diese auch: "Sie gehen damit wissentlich das Risiko ein, die Grundrechte und ihre Akzeptanz in der Bevölkerung immer weiter auszuhöhlen." Selbst den EuGH hätten sie offenbar schon mürbe gemacht, da dieser zumindest einer speziellen Protokollierung von IP-Adressen mittlerweile offener gegenüberstehe.

Mit Blick auf die Bestandsdatenauskunft unterstreicht die schleswig-holsteinische Datenschutzbeauftragte Marit Hansen: "Es muss irritieren, dass Teile des Gesetzes bereits zum zweiten Mal als verfassungswidrig eingestuft worden sind und dass sich die Überprüfung der Verfassungsgemäßheit über einen langen Zeitraum erstreckt hat." Die erneute Klatsche vom BVerfG in derselben Angelegenheit sei nicht überraschend gewesen, wenn "der Gesetzgeber nunmehr eine Regelung mit im wesentlichen gleichem Inhalt wiederholt" habe.

Ohne Erfolg hätten Kritiker nach dem ersten einschlägigen Urteil prognostiziert, dass der daraufhin erfolgte zweiten Anlauf wieder verfassungswidrig sein dürfte, erläutert die Datenschützerin. Erneut habe es daraufhin sieben Jahre gedauert, bis die Karlsruher Richter diese Befürchtungen bestätigten. Ob das jetzige "Reparaturgesetz" eine Grundgesetzkompatible Lösung darstelle, sei "alles andere als sicher".

"Niemand sollte verfassungswidrigen Regelungen ausgesetzt sein, schon gar nicht über Jahre", schlussfolgert Hansen. "Wir leben in einer Zeit, in der das Vertrauen in den Gesetzgeber schwindet. Nicht nur einzelne Gesetze, sondern der Gesetzgebungsprozess an sich bedarf einer Reparatur, um künftig solche Fehler zu vermeiden und vor allem unsere Verfassung ernst zu nehmen."

Der dieses Jahr 265 Seiten starke Grundrechte-Report dokumentiert seit 1997 als Teil einer zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit jährlich den Umgang mit Bürger- und Menschenrechten in Deutschland. Das Hauptaugenmerk liegt auf den staatlichen Institutionen, von denen laut den Herausgebern die größten Gefährdungen der Grundrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit ausgehen.

Einen Schwerpunkt bilden dieses Jahr die staatlichen Reaktionen auf die Corona-Pandemie. Diese "gingen mit teilweise erheblichen Grundrechtseingriffen einher" und bewegten sich oft im Spannungsfeld zwischen dem Schutz der Gesundheit und den Freiheitsrechten, heißt es im Vorwort. Die mitunter fundamentalen Einschränkungen, die zuvor kaum vorstellbar gewesen wären, stellten die Gesellschaft vor Herausforderungen. Sie belegten auch, dass gerade in Krisenzeiten bestehende gesellschaftliche Risse zutage gefördert würden. Für die Corona-Warn-App resümiert Rainer Rehak vom FIfF, dass damit verknüpfte Grundrechtsprobleme wie hochriskante Anonymisierungsprozesse sowie die Rolle von Apple und Google noch behoben werden müssten.

Die Macher begrüßen nach 15 Jahren Verfahrensdauer auch die höchstrichterliche Entscheidung, "dass die jahrzehntelange Überwachung des dem Grundrechte-Report seit langer Zeit verbundenen Publizisten und Bürgerrechtlers Rolf Gössner durch den Verfassungsschutz rechtswidrig war". In diesem Sinne gelte es weiterhin, "Grundrechte aktiv einzufordern und zu verteidigen". Den Band geben zehn deutsche Bürger- und Menschenrechtsorganisationen heraus, zu denen die Humanistische Union, das FIfF und die Gesellschaft für Freiheitsrechte zählen.

(olb)