People-Analytics-Gründer: "Unsere Branche muss stärker reguliert werden"

Das Start-up Humanyze analysiert, wer, wann, wie viel und mit wem zusammenarbeitet. Gründer Ben Waber erklärt, welche Daten Unternehmen wirklich voranbringen.

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(Bild: Lu Wenjuan / shutterstock.com)

Lesezeit: 12 Min.

In seinem 2014 veröffentlichten Werk "Social Physics" fasst der MIT-Physiker Alex Pentland die Grundlagen einer neuen wissenschaftlichen Disziplin zusammen, die Soziologie, Informatik und Physik vereinen soll. Menschen, glaubt Pentland, tun sich zu Gruppen zusammen, weil sie Probleme gemeinsam besser lösen können als allein. Durch gegenseitiges Beobachten lernen die Gruppenmitglieder schneller, was funktioniert und was nicht. Je besser der Ideenfluss in einer Gruppe funktioniert, desto erfolgreicher kann sie Probleme lösen.

Um die Theorie praktisch anwenden zu können, haben Pentland und Kollegen ein Messgerät entwickelt, mit dem man den "Fluss der Ideen", die soziale Struktur und die Effizienz von Gruppen, quantitativ ermitteln kann. Das Unternehmen Sociometric Solutions, von Pentland gemeinsam mit seinem Schüler Ben Waber gegründet, nutzt das zur Unternehmensoptimierung. 2015 wurde das Start-up dann in Humanize umbenannt. TR hat mit Mitgründer Ben Waber über das Geschäftsfeld der People Analytics gesprochen – und warum es problematisch sein kann.

Mr. Waber, für pessimistische Beobachter hat die Pandemie die Arbeitswelt bereits kräftig in eine eher dystopische Richtung verändert. Immer mehr Menschen arbeiten in verteilten Teams und werden dabei zunehmend intensiv von Software und KI überwacht. Stimmen Sie dem zu?

Nun, es gibt natürlich auch in der physischen Welt eine ganze Menge Daten darüber, wie Leute arbeiten. Besonders in den vergangenen Jahren wurden immer mehr Sensoren in die Büros integriert. Es gibt Badges für den Zugang. Die nächste Generation von Zugangssystemen nutzt Telefone, die sich auch verwenden lassen, um Konferenzräume zu buchen oder Ihnen zu sagen, ob jemand in der Nähe ist, mit dem Sie vielleicht sprechen möchten.

Ben Waber

(Bild: Humanyze)

In der aktuellen Situation ist es besonders einfach zu verstehen, wie die Arbeitstage der Mitarbeiter ablaufen. Es gibt schließlich eine ganze Menge Daten, die Unternehmen bereits darüber haben. Wenn Sie Tools wie Slack oder Microsoft Teams verwenden, werden natürlich Informationen über Ihre Arbeit generiert. Schon die Metadaten aus diesen Systemen sagen Ihnen viel darüber, wer mit wem wann wie oft kommuniziert. Wenn Sie dies mit anderen Daten aus einem HR-System kombinieren, gibt es natürlich eine ganze Reihe von Fragen, die Sie auf Basis dieser Daten beantworten können. Einige Unternehmen bieten in diesem Bereich spezielle Lösungen an, wie etwa Microsoft mit dem Produktivitätsscore. Den halte ich aber aus verschiedenen Blickwinkeln für grundlegend falsch.

Warum sind solche Analysewerte aus Ihrer Sicht problematisch?

Was Unternehmen interessiert, ist ja nicht, wie viele E-Mails eine bestimmte Person verschickt oder ob und wie oft sie Microsoft-Produkte verwendet. Das bedeutet nämlich nicht, dass jemand produktiver ist.

Was macht uns denn besonders produktiv?

In den allermeisten Unternehmen arbeiten wir heute mit anderen Menschen zusammen. Und zwar deshalb, weil wir gemeinsam etwas tun können, was wir alleine nicht schaffen würden. Es geht also um die Struktur der Kommunikation. Wie sieht diese Struktur aus? Und wie gut funktioniert sie? Davon abgesehen gibt es eine Menge Möglichkeiten, als Manager zu erfahren, ob ein Mitarbeiter den Output liefert, den Sie von ihm erwarten.

Und Sie versuchen, diese Kommunikation zu optimieren?

Wir wollen Daten darüber gewinnen, wie Menschen zusammenarbeiten und automatisch spezifische Bereiche identifizieren, in denen es wahrscheinlich ein Problem gibt. Wenn es dann um konkrete Verbesserungen geht, liegt das in der Regel bei unseren Kunden. Wir verfügen über einen globalen, repräsentativen Datensatz von Informationsarbeitern. So können wir tatsächlich automatisch erkennen, wenn etwas nicht stimmt, zum Beispiel ein Team in einem bestimmten Teil der Organisation identifizieren, das schlechte Leistung erbringt. Sie können sogar aufschlüsseln, um welche spezifischen Verhaltensweisen es sich handelt.

Haben Sie ein Beispiel?

Sie erkennen zum Beispiel, dass Manager in einer Abteilung nicht viel Zeit mit ihren Teams verbringen. Vielleicht sind es weniger als zwei Prozent der Zeit. Und normalerweise würden Sie feststellen, dass das ein wirklich großes Problem ist. Aber es kann auch daran liegen, dass es gerade eine größere Umstrukturierung gibt. Und damit sind die Leute sehr beschäftigt, was in Ordnung ist. Egal, wie schlau man einen Algorithmus macht, er wird den Kontext nie ganz verstehen. Wenn wir solche Metriken also nutzen, müssen wir solche Zusammenhänge berücksichtigen.

Nun, ich bin mir immer noch nicht ganz sicher, ob ich das verstehe. Was sind die Messgrößen, die Ihnen sagen, dass etwas tatsächlich problematisch ist?

Wir haben zwei Klassen von Problemen. Die eine ist ziemlich einfach zu verstehen, es geht um Zeitmanagement. Dabei spielen Dinge wie die durchschnittliche Länge des Arbeitstages eine Rolle. Ist sie in Ordnung oder zu lang? Und wenn ich sage zu lang, dann vergleichen wir das natürlich mit unseren Benchmarks. Die Teams, die eine sehr hohe Arbeitszeit aufweisen, haben Arbeitstage, die im Durchschnitt 14 Stunden oder länger sind.

Aber es gibt natürlich noch andere Dinge, die Sie sich ansehen können – etwa wie viel Zeit das durchschnittliche Teammitglied mit seinem Manager verbringt. Und auch hier gilt, wenn die Zeit sehr niedrig oder sehr hoch ist, dann ist das meistens schlecht. Oder sie betrachten Dinge wie die Fokuszeit – das heißt, wie viel ununterbrochene Zeit für konzentrierte Arbeit haben die Leute?

Und welche Probleme können Sie mit ihrer Software noch identifizieren?

Die anderen Probleme sind eher komplexer. Dabei geht es wirklich um die Struktur des Kommunikationsnetzwerks innerhalb des Unternehmens. Wir schauen uns an, wie kohäsiv die Teams sind. Aber auch, wie viel Zeit jemand investiert, um sich mit anderen Teilen der Organisation auszutauschen. Das ist ein Punkt, an dem diese Analysen wirklich gut funktionieren, weil man Aussagen treffen kann, auch ohne die genaue Arbeit zu kennen. Wenn die eigenen Daten stark von der statistischen Verteilung abweichen, kann man ziemlich sicher sein, dass das eine schlechte Sache ist.

Wenn das alles funktioniert, bedeutet es nicht schlicht und einfach, dass ich viel effektiver arbeite, mehr Ideen habe – und für dasselbe Geld noch mehr arbeiten soll als ohnehin schon?

Ich glaube, dass Unternehmen, die diese Probleme auf die richtige Art und Weise angehen, viel erfolgreicher sein werden als solche, die ihre Mitarbeiter mit Micromanagement traktieren – nach dem Motto "Hey, wir wollen nur, dass ihr mehr Codezeilen raushaut". Tatsächlich gibt es wissenschaftliche Studien, die zeigen, dass man schlechteren Code schreibt, wenn man pro Codezeile bezahlt wird. Und es gibt eine Arbeit von Anita Woolley von der Carnegie Mellon University. Sie hat untersucht, was passiert, wenn man den Leuten in ihren Teams Metriken vorgibt, wie zum Beispiel den Arbeitsaufwand, den eine Aufgabe maximal umfassen darf. Das Ergebnis: Die Leute produzieren tatsächlich weniger, weil sie dadurch entmutigt werden.

Bedeutet das nicht, dass Unternehmen sehr vorsichtig mit diesen Metriken umgehen sollten?

Die Gefahr für die gesamte Branche ist, dass es eine Menge Metriken gibt, die auf den ersten Blick einfach und klar wirken, aber in Wirklichkeit keinen Mehrwert für die Leistung oder die Gesundheit des Unternehmens bringen, sondern etliche negative Nebeneffekte haben. Um das zu verhindern, bin ich der festen Überzeugung, dass unsere Branche stärker reguliert werden sollte – selbst in Europa sind wir meiner Meinung nach nicht genug reguliert, insbesondere wegen des Machtungleichgewichts zwischen Arbeitnehmern und Arbeit gebern.

Was ist das Wichtigste in der Regulierung, das Ihrer Meinung nach getan werden sollte?

Was Verhaltensdaten betrifft, sollte es stärker um Aggregation gehen. Das ist etwas, worum sich Unternehmen wirklich kümmern sollten. Oft werde ich von jemandem gefragt: "Hey, ich möchte wissen, was der High-Performer in dem Team wirklich macht. Können Sie mir das sagen?" Wenn ich Daten aggregiere, weiß ich das nicht. Das löst dann zwar nicht jedes Problem, aber eine ganze Menge. Denn auch aus aggregierten Daten kann man unter bestimmten Umständen auf einzelne Mitarbeiter zurückschließen.

Wir selbst schauen uns auch keine Inhalte an. Laut DSGVO dürfen wir das auch nicht, ebenso wenig wie Namen oder E-Mail-Adressen zu sammeln. Aber auch hier denke ich, dass die Regulierung unzureichend ist, wenn es um Daten innerhalb von Organisationen geht. Denn auch hier spielt die Machtdynamik zwischen dem Einzelnen und dem Unternehmen eine Rolle. Daher denke ich, dass auch Dinge wie die Inhaltsanalyse, wenn es um Verhaltensdaten geht, einfach anders behandelt werden müssen.

Trotzdem könnten sich die User auch von Ihrer Software einfach ausspioniert fühlen, oder nicht?

Ja, und damit müssen wir umgehen – wir haben unsere Systeme so konzipiert, dass das einfach nicht möglich ist. Ein Teil der Antwort ist, Vertrauen zu stärken. Und das entsteht nicht, in dem Anbieter immer wieder wiederholen, wie transparent und menschenfreundlich ihre Software ist. Ich glaube, das Vertrauen würde gestärkt werden, wenn es einfach mehr Regulierung gäbe. Die Menschen werden mehr Vertrauen in diese Art von Technologie haben, wenn sie auf die richtige Art und Weise eingesetzt wird.

Wird sich die Situation nach dem Ende der Pandemie nicht ändern? Schließlich hat die massive Ausweitung von Homeoffice ja auch Nachteile, oder?

Wir sehen in unseren Daten zwei Tendenzen: Die erste ist, dass die Arbeitstage deutlich länger sind. Sie beginnen früher und enden später. Wenn man sich die Daten ansieht, ist es nicht so, dass die Leute mehr arbeiten, sondern dass die Arbeit über einen größeren Teil des Tages verteilt ist. Auch bei mir ist es so: Ich habe Kinder zu Hause, und es gibt Zeiten am Tag, in denen ich mich um sie kümmere und nicht arbeite, aber ich nehme Anrufe entgegen und erledige andere Dinge später. Das ist einfach notwendig, bedeutet aber nicht, dass es gut ist.

So etwas ist im Allgemeinen mit einem höheren Stresslevel korreliert. Und es bedeutet, dass es weniger Leute gibt, die gleichzeitig verfügbar sind. Das ist wichtig, denn wenn ich zum Beispiel versuche, einen Anruf mit vier anderen Leuten zu planen, konnte ich vor der Pandemie sagen, dass die meisten von ihnen zwischen 10 Uhr und 16 Uhr verfügbar sein werden. Aber jetzt ist das viel schwieriger, also wird das Meeting um einen Tag verschoben. So etwas summiert sich mit der Zeit. Das wiederum verlangsamt den Informationsfluss. Und das ist ein Problem.

Und welche zweite Tendenz sehen Sie in Daten zum Homeoffice noch?

Die wahrscheinlich größte Sorge, die ich habe, ist die Abnahme der schwachen Verbindungen. Die Menschen haben ihre Kommunikation sehr stark fokussiert. Sie kommunizieren hauptsächlich mit den Menschen, mit denen sie kommunizieren müssen, um ihre Arbeit zu erledigen. Es gibt also viel mehr von diesen starken Bindungen, aber viel weniger schwache Bindungen. Vor der Pandemie hatten die durchschnittlichen Informationsarbeiter weltweit über 40 dieser schwachen Verbindungen, mit denen sie innerhalb einer Woche kommunizierten. Und jetzt sind es nur noch etwas mehr als 20. Aber wenn es um Innovation geht, wenn es darum geht, große Projekte pünktlich und im Rahmen des Budgets abzuschließen, sind diese Beziehungen entscheidend. Und wir sehen sie von der Klippe fallen.

Das heißt also, wir kehren zurück in die Büros?

Das weiß ich nicht. Das kann Ihnen im Moment niemand seriös sagen. Und das ist wirklich aufregend. Denn vor der Pandemie gab es diese große Konvergenz, bei der es für die meisten Informationsarbeiter unabhängig in welchem Unternehmen sie arbeiteten, klar war, wie ihr Arbeitsplatz aussehen wird. Jetzt hat die Pandemie die Art und Weise, wie Menschen arbeiten, grundlegend verändert. Und das spannende ist, dass es anscheinend viele verschiedene Modelle für die Arbeitsorganisation gibt, die Unternehmen in den nächsten Jahren ausprobieren werden.

(bsc)