Chinas riskante Experimente mit Coronaviren

Chinesische Forscher ahmen Techniken ihrer US-Kollegen nach, um neuartige Coronaviren zu konstruieren – unter unsicheren Bedingungen, wie sich nun zeigt.

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BSL-4-Labor, hier am RKI.

(Bild: RKI)

Lesezeit: 24 Min.
Von
  • Rowan Jacobsen
Inhaltsverzeichnis

Die Sache begann vor gut acht Jahren. 2013 sprach der amerikanische Virologe Ralph Baric von der The University of North Carolina at Chapel Hill (UNC) seine chinesische Kollegin Zhengli Shi bei einem Treffen an. Baric war schon damals ein Top-Experte für Coronaviren mit Hunderten von Veröffentlichungen – und Shi hatte zusammen mit ihrem Team am Wuhan Institute of Virology (WIV) haufenweise neue Patogene dieser Art in Fledermaushöhlen entdeckt. In einer Probe von Fledermaus-Guano hatte Shi unter anderem das Genom eines neuen Virus namens SHC014 entschlüsselt, der einer der beiden engsten Verwandten des ursprünglichen SARS-Virus war. Doch ihrem Team gelang es nicht, das Virus im Labor anzuzüchten.

Da konnte Baric helfen. Er hatte einen Weg entwickelt, dieses Problem zu umgehen – eine Technik der sogenannten Reverse Genetics bei Coronaviren. Sie erlaubte es ihm nicht nur, ein echtes Virus aus seinem genetischen Code zum Leben zu erwecken, sondern er konnte auch Teile mehrerer Viren vermischen und miteinander kombinieren. Seine Idee: Er wollte das "Spike"-Gen von SHC014 nehmen und es in eine genetische Kopie des SARS-Virus einfügen, das er bereits in seinem Labor hatte. Das Spike-Protein ist jener Bestandteil des Virus, das es eine Zelle öffnen und in sie eindringen lässt. Die resultierende Chimäre sollte zeigen, ob sich der Spike von SHC014 an menschliche Zellen anheften könnte.

Falls dem so war, hätte es Baric bei seinem langfristigen Projekt helfen können, universelle Medikamente und Impfstoffe gegen das gesamte Spektrum SARS-ähnlicher Viren zu entwickeln, die er zunehmend als Quelle potenzieller Pandemien ansah. Ein – bis heute nicht zugelassener – Impfstoff gegen SARS war bereits entwickelt worden, aber es war nicht zu erwarten, dass er gegen verwandte Coronaviren sehr effektiv sein würde, ähnlich wie Grippeimpfungen nur selten gegen neue Stämme wirken. Um einen allumfassenden Impfstoff zu entwickeln, der eine Antikörperreaktion gegen eine ganze Reihe von SARS-ähnlichen Viren hervorruft, müsste man dem Immunsystem einen Cocktail von Erregern zeigen. SHC014 könnte die Basis bilden, dachte Baric.

Baric fragte also Shi, ob er die genetischen Daten für SHC014 haben könne. "Sie war so großzügig, uns diese Sequenzen fast sofort zu schicken", sagt er. Sein Team führte das mit diesem Code modifizierte Virus erst in Mäuse und dann in der Petrischale in menschliche Atemwegszellen ein. Tatsächlich zeigte die Chimäre eine "robuste Replikation" in den menschlichen Zellen – ein Hinweis darauf, dass die Natur voll von Coronaviren ist, die bereit zu sein scheinen, direkt auf den Menschen überzuspringen.

Während Barics Studie im Gange war, kündigten die amerikanischen National Institutes of Health (NIH) an, dass sie die Finanzierung von "Gain of Function"-Forschung, also Experimenten, die bereits gefährliche Viren virulenter oder übertragbarer machen, vorrübergehend einstellen werde – für SARS, MERS (das ebenfalls durch ein Coronavirus verursacht wird) und Influenza. Erst müsse die Sicherheit solcher Forschung beurteilt werden. Die Ankündigung brachte die Arbeit von Baric zum Stillstand.

Baric ist eine Legende auf dem Gebiet, aber egal wie viele Sicherheitsvorkehrungen er und seine Kollegen auch trafen, es bestand faktisch immer die Möglichkeit, dass ein noch nie dagewesenes Virus aus dem Labor entkommen und einen Ausbruch verursachen wurde. Baric war der Meinung, dass die extremen Maßnahmen, die er in seinem Institut ergriff, das Risiko minimierten und seine Arbeit in der Tat kategorisch von der risikoreichen "Gain of Function"-Arbeit am Grippevirus unterschied, die das NIH eigentlich ins Visier genommen hatte. (Ein niederländischer und japanischer Forscher belebten das Grippevirus von 1918 neu.) Er war auch der Meinung, dass seine Forschung dringend war: Neue Fälle von MERS, die durch Kamele übertragen wurden, tauchten damals im Nahen Osten auf. Nach einige Gesprächen schließlich stimmte das NIH zu und Baric durfte weitermachen.

Seine Arbeit aus dem Jahr 2015 mit dem Titel "A SARS-like cluster of circulating bat coronaviruses shows potential for human emergence" ("Ein SARS-ähnliches Cluster von zirkulierenden Fledermaus-Coronaviren zeigt Potenzial für Infektionen beim Menschen") gilt als eine Meisterleistung, bei der modernste Gentechnologie eingesetzt wurde, um die zivilisierte Welt vor einer drohenden Gefahr an ihrer Peripherie zu warnen. Es erweckte auch die Bedenken über Gain-of-Function-Experimente wieder, was Baric schon vorher klar gewesen war. In seinem Paper erläuterte er deshalb die zusätzlichen Vorsichtsmaßnahmen, die er getroffen hatte, und stellte die Forschung als Testfall dar. "Das Potenzial, sich auf zukünftige Ausbrüche vorzubereiten und diese abzuschwächen, muss gegen das Risiko abgewogen werden, noch gefährlichere Erreger zu schaffen", schrieb er. "Wissenschaftliche Prüfgremien könnten ähnliche Studien, die Virenchimären auf der Grundlage zirkulierender Stämme aufbauen, für zu riskant halten, um sie weiter zu verfolgen." Die NIH entschieden, dass das Risiko es wert war. In einer möglicherweise verhängnisvollen Entscheidung finanzierte es auch später ähnliche Arbeiten wie die von Baric am Wuhan Institute of Virology, das bald darauf seine eigene Technologie der Reverse Genetics einsetzte, um zahlreiche Coronavirus-Chimären herzustellen.

Von den meisten unbemerkt, gab es jedoch einen entscheidenden Unterschied, der die Risikokalkulation deutlich verschob. Die chinesische Forschung wurde auf Biosicherheitsstufe 2 (BSL-2) durchgeführt, einer viel niedrigeren Stufe als Barics Labor mit dem Rating BSL-3+. Was die Covid-19-Pandemie verursacht hat, bleibt ungewiss, und Shi behauptet steif und fest, dass ihr Labor vor dem Ausbruch in Wuhan nie auf das SARS-CoV-2-Virus gestoßen ist. Aber jetzt, da die US-Regierung beschlossen hat, dass die Möglichkeit eines Laborunfalls untersucht werden muss, ist das Rampenlicht auf die amerikanische Finanzierung der weniger sicheren Forschung des Wuhan-Labors gefallen. Heute meldet sich ein Chor von Wissenschaftlern – einschließlich Baric selbst – zu Wort und sagt, dass dies ein Fehler war. Selbst wenn es keine Verbindung zu COVID-19 gibt, ist die Zulassung von Arbeiten an potenziell gefährlichen Fledermausviren auf BSL-2-Niveau "ein echter Skandal", wie etwa Michael Lin sagt, ein Bioingenieur an der Stanford University.

Die schwelende Besorgnis, dass die USA riskante Forschung in China finanzieren, brach am 11. Mai in die nationale Debatte ein, als Senator Rand Paul den bekannten Corona-Koordinator Anthony Fauci, den langjährigen Direktor des National Institute of Allergy and Infectious Diseases (NIAID), beschuldigte, eine "Supervirus"-Forschung in den USA zu finanzieren und einen "großen Fehler" begangen zu haben, indem er das Know-how nach China weitergab. Paul konfrontierte Fauci wiederholt und verlangte zu wissen, ob er Gain-of-Function-Forschung in diesem Land finanziert habe. Fauci bestritt den Vorwurf und erklärte kategorisch: "Die NIH haben nie und werden auch jetzt nicht die Gain-of-Function-Forschung im Wuhan Institute of Virology finanzieren."

Allerdings: Das Dementi stützt sich allein auf die spezifische Definition der NIH, was unter das Moratorium fällt. Nämlich Arbeiten, die absichtlich SARS-ähnliche Viren, MERS oder Grippe virulenter gemacht hätten, indem sie zum Beispiel leichter durch die Luft verbreitbar gemacht worden wären. Die chinesische Forschung hatte nicht das spezifische Ziel, die Viren tödlicher zu machen – und statt SARS selbst wurden die nahen Verwandten von SARS verwendet, deren reales Risiko für den Menschen unbekannt war. Tatsächlich war die Bestimmung des Risikos der Sinn der Forschung. So wie man beim Pokern einen Teil des Blattes gegen neue Karten eintauscht, konnte man eben nicht wissen, ob die endgültigen Chimären stärker oder schwächer sein würden.

Die NIH haben ihre Entscheidungsfindung immer noch nicht vollständig erklärt und hat auch auf Fragen zu diesem Artikel nicht geantwortet. Unter Berufung auf eine ausstehende Untersuchung weigerten sie sich außerdem, Abrechnungskopien zu Zuschüssen freizugeben, die dem Institut in Wuhan zwischen 2014 und 2019 immerhin etwa 600.000 Dollar zukommen ließen. Die NIH haben bislang auch wenig Praktisches über ihr neues System zur Bewertung von Gain-of-Function-Risiken preisgegeben, das von einem anonymen Prüfgremium eingeführt wurde, dessen Beratungen wiederum nicht öffentlich gemacht werden. Solange in diesen Bereich nicht mehr Aufklärung gibt, werden die Spekulationen von Paul und anderen nicht aufhören.