Reaktionen Weltklimabericht: "Wir verlassen den klimatischen Wohlfühlbereich"

Forscher und Umweltschützer fordern anhand der neuen, drastischen Warnung des Weltklimarats vor Kipppunkten ein rasches Umsteuern hin zu "Null-Emissionen".

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Tausende protestieren beim "People's Climate March" am 29. April 2017 in Washington DC für entschiedene Maßnahmen gegen die Klimaerhitzung

(Bild: Nicole Glass Photography/Shutterstock.com)

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Der am Montag veröffentlichte erste Band des 6. Sachstandberichts des Weltklimarats (IPCC) lässt laut Beobachtern keinen Platz mehr für Leugner des menschgemachten Klimawandels und erfordert ein rasches Gegensteuern. "Der Report ist ein Meilenstein der Klimawissenschaften, der die immer extremeren Wetterereignisse und Klimaveränderungen in Wasser und Eis, an Land und in der Luft akribisch genau und mit umfassenden Beobachtungen dokumentiert", betont der Schweizer Experte für Erdsystem-Modellierung, Fortunat Joos.

"Ursache der globalen Klimaerhitzung und von zusätzlichen Hitzewellen, Dürren, Feuer, Starkniederschlägen, und Überschwemmungen sind die außer Rand und Band geratenen, mensch-verursachten CO2-Emissionen aus der Verbrennung von Kohle, Erdöl, und Gas", betont Joos. "Wir sind zusammen mit der fossilen Energiewirtschaft gerade dabei, das Klimasystem in wenigen Jahrzehnten weit über den natürlichen Bereich der vergangenen Millionen Jahre hinauszukatapultieren."

Es sei "inzwischen sehr wahrscheinlich geworden, dass die Welt das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens schon um das Jahr 2040 gerissen haben wird", blickt der Kieler Klimaforscher Mojib Latif skeptisch nach vorn. "Selbst das 2-Grad-Ziel wird nur noch mit sehr tiefgreifenden weltweiten Maßnahmen zu erreichen sein, die derzeit nicht in Sicht sind." Für ihn ist klar: "Die Menschheit ist dabei, den klimatischen Wohlfühlbereich zu verlassen, den sie über die letzten Jahrtausende genießen durfte."

"Jede Tonne CO2, die wir in die Luft emittieren, zählt", mahnt Johannes Orphal vom Zentrum für Klima und Umwelt in Eggenstein-Leopoldshafen zum Handeln. Auch für den Berliner Geograph Carl-Friedrich Schleussner läutet der IPCC mit dem Bericht "die Alarmglocken bezüglich der Risiken des Überschreitens kritischer Kipppunkte des Klimasystems". Mit zunehmender Erwärmung nähmen diese substanziell zu: "Ein extremes Szenario, in dem aufgrund ungebremster Erwärmung und des Überschreitens von Kipppunkten der Eisschilde der Meeresspiegel bis zum Ende des Jahrhunderts um zwei Meter steigen könnte – bis 2150 sogar um fünf Meter –, kann daher nicht ausgeschlossen werden."

Von wissenschaftlicher Seite gebe es nun "keinerlei Zweifel mehr am Ausmaß und der Ursache der Erwärmung", meint Karsten Haustein, Klimaforscher am Helmholtz-Zentrum Geesthacht. "Ebenso wissen wir genau, welche zusätzliche Erwärmung zu erwarten ist, sollten sich die Treibhausgasemissionen weiter nach oben bewegen. Dabei ist insbesondere die Erkenntnis, dass Null-Emissionen die Erwärmung quasi auf dem gegenwärtigen Level stoppen würden, von entscheidender Bedeutung." Es liege "einzig und allein an unseren kollektiven Entscheidungen", wie viel mehr Erderwärmung "wir zulassen".

Am Bericht beteiligte Wissenschaftler unterstreichen die Dringlichkeit des Handelns. "Es geht nun darum, die Treibhausgasemissionen sofort, schnell und drastisch zu reduzieren", fordert Veronika Eyring, Abteilungsleiterin beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) als eine der Leitautorinnen. Ihre Schweizer Kollegin, die Umweltsystemwissenschaftlerin Sonia Seneviratne erklärt, keine Region werde mehr von verheerenden Klimaextremen verschont.

"Viele Veränderungen im Erdsystem, die wir Menschen in den letzten Jahrzehnten angestoßen haben, sind auf Jahrhunderte oder Jahrtausende hin nur noch zu verlangsamen, aber nicht mehr zu stoppen", verweist der Mitautor Dirk Notz vom Max-Planck-Institut für Meteorologie etwa auf das Abschmelzen der großen Eisschilde und den Anstieg des Meeresspiegels. "Die Erde gleicht einem Tanker mit einem sehr großen Bremsweg. Die von uns eingeleiteten Entwicklungen werden sich teilweise über Jahrzehnte und Jahrhunderte fortsetzen." Dies mache einen "raschen Ausstieg aus den CO2-Emissionen" umso dringlicher.

"Wir müssen jetzt radikal umsteuern, um die Klimakrise zu bekämpfen und unsere Lebensgrundlage zu erhalten", verlangt Antje von Broock, Geschäftsführerin der Umweltschutzorganisation BUND. "Es ist allerhöchste Zeit, die politischen Weichen dafür zu stellen." Alle Parteien müssten vor der Bundestagswahl klarstellen, wie sie der Klimakrise begegnen wollen – und das im Anschluss auch umsetzen. Spätestens von 2040 an "muss unser Wirtschaften zu 100 Prozent auf erneuerbaren Energien basieren".

"Das Schockierende dieses Berichts ist, dass alles Alarmierende darin abzusehen war – und doch bewegen sich Regierungen und Konzerne beim Klimaschutz noch immer im Schneckentempo", kommentiert Greenpeace Klimaexperte Christoph Thies. Auch die Bundesbürger hätten inzwischen schmerzhaft erfahren, "dass die Klimakrise unsere Lebensgrundlagen immer schneller zu zerstören droht". Kohle, Öl und Gas zu verbrennen, stelle eine "existenzielle Bedrohung für uns alle dar". Alle Regierungen müssten den Verbrauch fossiler Energien so schnell wie möglich stoppen und Wälder, Moore und Ozeane als natürliche CO2-Senken schützen.

Die Wahlprogramme müssten neu aufgestellt und "1,5 Grad-konform" werden, lautet der Appell der "Fridays For Future"-Sprecherin Luisa Neubauer. Die Bundesrepublik gehöre zu den Hauptverursachern der Klimakrise. Wenige Wochen vor der Bundestagswahl habe aber keine der Parteien eine angemessene Antwort auf die Drastik der Lage. Die Einhaltung des Pariser Abkommens scheitere nicht an der Physik, sondern am politischen Willen. Die Aktivistengruppe appellierte an alle Generationen, am 24. September zum globalen Klimastreik auf die Straße zu gehen und sich "gegen die aktuelle klimapolitische Ignoranz" zu wehren. Die Klimastreik-Pionierin Greta Thunberg twitterte: "Wir können die schlimmsten Folgen noch abwenden, aber nicht, wenn wir so weitermachen wie bisher."

"Dies ist unser letzter Weckruf", hieß es bei CDP Europe, einer Non-Profit-Organisation, die sich für die Offenlegung von Umweltdaten von Unternehmen, Städten, Staaten und Regionen einsetzt. Es müssen jetzt dringend "systemweite Maßnahmen" ergriffen werden. In der Klimapolitik brauche es mehr Tempo, ergänzte der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW): "Allem voran müssen wir jetzt die Fesseln beim Ausbau der Erneuerbaren Energien lösen. Ohne grüne Energie gibt es keine Klimaneutralität."

"Es gab schon genug Weckrufe und Appelle", räumt Bundesumweltministerin Svenja Schulze ein. Die Zeit für die Rettung des Planeten, "wie wir ihn kennen", laufe ab. Klimaschutz ist für die SPD-Politikerin so "eine überlebensnotwendige Aufgabe". Wichtig sei eine rasche Abkehr von Kohle, Öl und Gas sowie der Ausbau der Sonnen- und Windkraft und der Produktion von grünem Wasserstoff als klimafreundlichem Energieträger. Der UN-Klimagipfel in Glasgow in drei Monaten sei "der entscheidende Moment, in dem die Weltgemeinschaft liefern muss". Möglichst viele weitere Staaten bräuchten ambitionierte Klimaziele und bei offenen Verhandlungspunkten "absoluten Einigungswillen". Mit dem Klimaschutzgesetz habe Deutschland bereits einen wichtigen Beitrag geleistet.

Forschungsministerin Anja Karliczek sprach von einem "nicht mehr zu überhörendes Warnsignal". Dank verbesserter Beobachtungen, Messungen und Klimamodelle gebe es "nicht mehr den geringsten Zweifel daran, dass wir Menschen es sind, die das Klima weltweit verändern". Damit wachse die Verantwortung. Die CDU-Politikerin kündigte an: "Wir werden deshalb nochmals spürbarer in Wissenschaft und Forschung investieren, um dem Klimawandel mit aller Kraft entgegenzutreten. Deutschland soll das Zentrum für die Entwicklung von klimafreundlichen Technologien werden." Dazu zählten neben dem grünen Wasserstoff auch Methoden zur CO2-Entnahme aus der Atmosphäre.

(olb)