Studie: Nur Verschwörungserzähler und Rechtsextreme witterten Wahlbetrug

Laut einer Social-Media-Analyse beklagten verschwörungsideologische und rechtsextreme Kreise sowie AfD-Anhänger Manipulationen bei der Bundestagswahl.

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(Bild: I'm friday/Shutterstock.com)

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Insgesamt hat sich die Community der Internet-Nutzer in Deutschland als widerstandsfähig gegenüber der versuchten Delegitimierung der Bundestagswahl und ihrer Ergebnisse erwiesen. Zu diesem Resultat kommen Experten des Institute for Strategic Dialogue (ISD) in einer am Donnerstag veröffentlichten Studie. Die offene Online-Verbreitung vermeintlicher Hinweise auf Wahlbetrug habe sich "auf verschwörungsideologische und rechtsextreme Kreise" sowie Gruppen von AfD-Anhängern beschränkt.

Das Berliner Büro der Londoner Denkfabrik zu interkommunalen Konflikten, Extremismus und Terrorismus hat für die Analyse ein "ethnographisches Monitoring" der Plattformen Facebook, Twitter, Instagram, TikTok, VK und Telegram durchgeführt. Das Team hat sich dafür täglich die Kommunikation in Gruppen und Kanälen in diesen Netzwerken angeschaut und die wichtigsten Themen, Schlüsselwörter, Taktiken und Akteure notiert. Dieser qualitative Forschungszugang stammt aus der Ethnografie und trägt daher deren Namen im Titel.

Ziel der Untersuchung war es laut den Autorinnen Julia Smirnova und Hannah Winter, "organisierte Bemühungen zu identifizieren, die das gesellschaftliche Vertrauen in die Integrität der Wahl untergraben". Bereits im Vorfeld des Urnengangs, aber auch am Wahltag selber, ließen sich demnach derartige Bestrebungen nachweisen. Am Sonntag seien "tatsächliche und vermeintliche Fehler und Unregelmäßigkeiten in den Wahllokalen" aus dem Kontext gerissen worden, um als Beweise für einen systematischen Wahlbetrug zu dienen.

"Korrekt abgelaufene Abläufe wurden falsch ausgelegt und als Evidenz für Wahlmanipulation dargestellt", heißt es weiter. Auf mehreren Plattformen hätten sich unbegründete Betrugsvorwürfe gefunden. Nutzer hätten dem demokratischen Akt pauschal jegliche Legitimität abgesprochen und sich dabei "diverser Verschwörungsmythen" bedient. Falschinformationen über den vermeintlichen Wahlbetrug in den USA, die dort Ex-Präsident Donald Trump selbst verbreitet habe, seien aufgegriffen worden, um die These zu stützen, in Deutschland könne das Gleiche passieren.

Die AfD und einzelne ihrer Politiker beteiligten sich laut den Verfasserinnen aktiv am Säen von Zweifeln vor allem rund um die Briefwahl. So habe die AfD bezahlte Anzeigen auf Facebook und Instagram mit Anspielungen darauf geschaltet, dass dieser Weg der Stimmabgabe besonders anfällig für Manipulationen sei. Darüber hinaus sollen offizielle Accounts der AfD und ihrer Kandidaten Aufrufe zur Wahlbeobachtung gestartet haben. Diese seien stets gepaart gewesen mit Behauptungen, dass nicht alles mit rechten Dingen ablaufen könnte.

Am Sonntag seien vor allem die "teils chaotischen Zustände in Berlin" mit fehlenden und vertauschten Stimmzettel auch für die Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses sowie lange Warteschlangen vor den Wahllokalen als Beweise für eine bewusste Wahlmanipulation angeführt worden, schreibt das Duo. In einem populären Telegram-Gruppenchat mit mehreren tausend Teilnehmer habe etwa ein Nutzer behauptet, dass Unterstützer der Grünen angeblich mehrmals abgestimmt hätten. Dies sei auch der Grund dafür gewesen sei, dass die Helfer die Frist für die Stimmabgabe teils auf nach 18 Uhr verlängert hätten.

Mittlerweile berichtet aber selbst der öffentlich-rechtliche rbb über die "Chaos-Wahl" mit zahlreichen Pannen in der Hauptstadt. Auffällig viele ungültige Stimmen, Schätzungen statt Resultaten und falsche Stimmzettel ließen viele Beobachter verwundert zurück.

Am Mittwoch hatte die Landeswahlleiterin Petra Michaelis die Konsequenzen aus der massiven Kritik gezogen und ihr Amt zur Verfügung gestellt. Für mehrere Wahlbezirke stehen Nachzählungen an wegen sehr knapper oder ungewöhnlicher Ergebnisse.

Trotzdem machten den Forscherinnen zufolge viele "falsche Interpretationen" korrekter Abläufe in den untersuchten sozialen Medien die Runde. So hätten Telegram-Nutzer von Wahlzetteln berichtet, bei denen eine Ecke gefehlt habe, oder von Wahlurnen, die nicht versiegelt gewesen seien. Dabei handle es sich aber nicht um Fehler oder Verstöße gegen das Wahlrecht. Kurz vor dem Urnengang habe eine Sprecherin des russischen Außenministeriums ferner einen Telegram-Post darüber abgesetzt, dass lediglich vier OSZE-Beobachter eingesetzt würden. Obwohl sich die Größe des Teams in den vergangenen Jahren kaum verändert habe, hätte RT DE daraufhin suggeriert, dass die Zahl diesmal ungenügend sei.

Dass sich die hiesige Online-Gemeinde resilienter gegenüber dem Wahlbetrugsnarrativ erwiesen habe als etwa die in den USA, hat laut der Analyse mehrere strukturelle Gründe "wie ein höheres Vertrauen in Medien sowie ein Wahl- und Parteiensystem, das weniger anfällig für Polarisierung ist". Weitere Untersuchungen seien aber erforderlich, um besser zu verstehen, inwiefern die Einstellung der breiten Bevölkerung zum Wahlprozess beeinflusst worden sei.

Die Verbindung von Wahlbetrug-Behauptungen mit dem Verweis auf eine "Corona-Diktatur", antisemitischen Verschwörungserzählungen sowie generellem Misstrauen gegenüber etablierten Medien und politischen Institutionen seien zudem Tendenzen, "die auch in Deutschland über den Wahlakt hinaus besorgniserregend bleiben".

(mho)