Kommentar: Warum Atomkraft auch heute nichts mit Nachhaltigkeit zu tun hat

Die EU will Atomkraft als "nachhaltige Technologie" einstufen. Eine Renaissance der Branche ist das aber noch nicht.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 380 Kommentare lesen

So stellt sich NuScale Fortschritt vor: In dem Rendering bestaunen Passanten den kleinen, modularen Atomreaktor des US-Unternehmens.

(Bild: Oregon State University / NuScale)

Lesezeit: 6 Min.

Der EU-Vorschlag zur sogenannten Taxonomie-Verordnung ist nun offiziell: Darin will die Kommision Regeln und Kriterien für "nachhaltiges Wirtschaften" in Kraft setzen. Diese "Taxonomie" gilt als wichtiges Element im "Green New Deal" und soll Investorengelder in Richtung Klimaschutz lenken. Frankreich nutzte die Initiative jedoch, um sich im Bündnis mit osteuropäischen Staaten auch den Anspruch auf Fördergelder der EU für Atomkraft zu sichern. Das Land bezieht rund 70 Prozent seines Stroms aus zurzeit noch 56 Reaktoren. Einer Studie des französischen Netzbetreibers RTE zufolge müsste das Land "enorme Kosten" schultern, um ohne Atomkraft bis 2050 klimaneutral zu werden.

Ein Kommentar von Wolfgang Stieler

Nach dem Studium der Physik wechselte Wolfgang Stieler 1998 zum Journalismus. Bis 2005 arbeitete er bei der c't, um dann als Redakteur der Technology Review zu wirken. Dort betreut er ein breites Themenspektrum von Künstlicher Intelligenz und Robotik über Netzpolitik bis zu Fragen der künftigen Energieversorgung.

Kein Wunder also, dass Präsident Macron wieder einmal auf die atomare Karte setzt. Und mit den osteuropäischen Staaten, die zurzeit noch massiv auf Kohle setzen, hat er gleichgesinnte Verbündete gefunden. Mittlerweile mehren sich die Zeichen, dass seine Strategie tatsächlich aufgeht: Ende Oktober 2021 gab Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bekannt, in der Taxonomie würden Atomkraft und für eine Übergangszeit auch Erdgas berücksichtigt. Ein durchgesickerter Formulierungsvorschlag der Kommission bestätigt dies. Die deutsche Regierung protestierte zwar umgehend, aber die EU-Kommission stützt sich im Wesentlichen auf ein Gutachten der Gemeinsamen Forschungsstelle (GFS) der EU.

Und in diesem kommen die Gutachter zu dem Schluss, dass die Energieerzeugung durch Atomkraft "keinen wesentlichen Schaden" im Sinne eines nachhaltigen Wirtschaftens erzeugen würde. Dieses "do no significant harm"-Prinzip ist ein ganz wesentliches Schlüsselkriterium für Nachhaltigkeit im Sinne der Taxonomie. Demnach muss eine wirtschaftliche Tätigkeit einen wesentlichen Beitrag zu einem Umweltziel wie etwa Klimaschutz leisten, ohne dabei zu einer "wesentlichen Beeinträchtigung" anderer Umweltziele zu führen.

Frankreichs Präsident Macron fühlt sich von der EU-Position offenbar ermutigt und kündigte im November nicht nur den Bau von sechs neuen Reaktoren der EPR-Reihe an. Die französische Regierung will auch die Entwicklung kleiner, modularer Reaktoren (SMR, Small Modular Reactors) mit mehreren hundert Millionen Euro fördern. Damit ist er nicht allein. Die Idee kleiner, modularer Atomkraftwerke wird auch in den USA seit einigen Jahren massiv gefördert. Solche "Mini-AKW" sollen billiger und vor allem sicherer als die alten Atomkraftwerke für CO2-freien, verlässlichen Strom sorgen – und so im Kampf gegen den Klimawandel helfen.

Selbst das IPCC setzt dabei auf Atomkraft. Muss die Atomenergie im Licht all dieser Entwicklungen also vielleicht doch neu bewertet werden? Die Atomkraft-Experten des Öko-Instituts Darmstadt sehen das – wenig überraschend – nicht so. Es sei extrem schwierig, das Konzept SMR allgemein zu bewerten, denn es gäbe ja noch nicht einmal eine allgemeingültige Definition für solche Reaktoren, und die technischen Konzepte, die darunter fallen, sind extrem divers: Das US-Unternehmen NuScale Power beispielsweise, das bis 2028 einen ersten Prototyp-Reaktor in Rumänien bauen will, setzt auf konventionelle Leichtwasser-Reaktortechnologie. Neu ist lediglich die Idee, den 60-Megawatt-Reaktor in einem unterirdischen Wasserbecken zu montieren. Terrapower, in das unter anderem Bill Gates investiert, will einen natriumgekühlten Reaktor mit sogenannten schnellen Neutronen bauen. Dabei werden die bei der Spaltung von Kernbrennstoff frei werdenden Neutronen nicht abgebremst. Solche Reaktoren kann man daher kleiner und dicht gepackter bauen – dadurch steigen aber die Ansprüche an das Material enorm.

Viele der angeblich extrem innovativen Konzepte wie schmelzsalz- oder heliumgekühlte Reaktoren sind jedoch grundsätzlich nicht neu – und eine ganze Reihe dieser Konzepte haben bereits in den 1960er- und 1970er-Jahren gravierende Probleme gezeigt. Ein prinzipielles Problem mit natriumgekühlten Reaktoren besteht beispielsweise darin, dass Natrium nicht mit Wasser in Kontakt kommen darf, weil es sonst heftig reagiert. In russischen Reaktoren, die nach diesem Prinzip arbeiten, hat es entsprechende Probleme gegeben. In Kugelhaufenreaktoren dagegen gab es immer wieder beschädigte Brennstoff-Kugeln, sodass radioaktives Tritium aus den Reaktoren entwich. Die Befürworter der neuen Reaktorkonzepte argumentieren zwar, dass es in den vergangenen 30 Jahren große Fortschritte bei der Entwicklung mit neuen Werkstoffen und der Berechnung der Reaktorkonstruktion im Computer gegeben hat. Ob das wirklich ausreicht, bleibt aber abzuwarten. Die bisherige Erfahrung mit Atomkraft zeigt, dass technische Probleme in der Vergangenheit sehr oft stark unterschätzt wurden.

Abgesehen von potenziellen Sicherheitsrisiken müssten jedoch zehntausende solcher Anlagen gebaut werden, damit sie im Kampf gegen den Klimawandel wirksam würden – was massive staatliche Subventionen erfordern würde. Die Hoffnung, dass die Reaktoren wirklich billiger würden, teilen die Experten dabei nicht. Grundsätzlich sei Energie aus einem kleinen AKW sehr viel teurer als aus einem großen Reaktor. Anzeichen dafür, dass sich das durch modulare Bauweise und Skalierung ändert, sehe man nicht.

Ein grundsätzliches Problem klammert zudem auch die "neue Atomindustrie" aus: den radioaktiven Müll. Den Anteil der Atomenergie weltweit massiv zu vergrößern, würde auch dieses – ungelöste – Problem noch einmal verschärfen. Genau da sieht auch das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) den Knackpunkt. In einem Gegengutachten zum GFS-Papier kommen die Experten des BASE nicht nur zu dem Schluss, dass zahlreiche Themenbereiche mit hoher Umweltrelevanz "reduziert dargestellt bzw. ausgespart" würden. Als besonders schwerwiegend mahnen die BASE-Experten an, "dass das Problem der Entsorgung radioaktiver Abfälle bereits durch frühere Generationen auf heute verschoben wurde und zwangsläufig vielen weiteren Generationen erhalten bleiben wird". Das Prinzip "no undue burdens for future generations" sei damit "bereits (nicht heilbar) verletzt". Dass dieses Argument keineswegs rein formal und damit zahnlos ist, zeigen diverse Klima-Urteile, in denen "ungerechte Belastungen" für zukünftige Generationen als unzulässig zurückgewiesen wurden. (lca)