"DNA to face": Die Gesichtserkennung erreicht eine fragwürdige nächste Stufe

Das Unternehmen Corsight AI will aus der DNA Gesichtsmodelle ableiten. Das zweifelhafte Verfahren zeigt, wohin sich Gesichtserkennung entwickeln wird.​

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(Bild: Ms Tech / Envato)

Lesezeit: 10 Min.
Von
  • Tate Ryan-Mosley
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Ein Polizeibeamter kommt an einen Mordtatort. Es gibt keine Zeugen, keine Kameraaufnahmen und keine offensichtlichen Verdächtigen oder Motive. Er findet nur ein paar Haare am Jackenärmel des Opfers. Das Labor kopiert DNA aus den Haarwurzel-Zellen und gleicht die Sequenz mit einer Datenbank ab. Es gibt keine Übereinstimmung, der Fall wird nicht weiterverfolgt.

Das israelische Unternehmen Corsight AI will eine Lösung für solche Fälle finden und auf der Basis von DNA Gesichtsmodelle erstellen. Diese ließen sich dann von einem Gesichtserkennungssystem überprüfen. Die Tochter des auf Künstliche Intelligenz (KI) spezialisierten Unternehmens Cortica stellte sein "DNA to Face"-Produkt Mitte Dezember auf der Imperial Capital Investors Conference in New York vor. Geschäftsführer Robert Watts und der geschäftsführende Vorsitzende Ofer Ronen warben mit der Präsentation höchstpersönlich um Finanziers und reihten "DNA to Face" in die allgemeine Produktplanung ein, die auch Bewegungs- und Stimmerkennung umfasst.

Das Werkzeug "erstellt ein physisches Profil durch die Analyse von genetischem Material, das in einer DNA-Probe gesammelt wurde", heißt es in einer Präsentation des Unternehmens, die von der Überwachungsforschungsgruppe IPVM eingesehen und mit MIT Technology Review geteilt wurde. Corsight selbst wollte sich nicht zur Präsentation und dem Produktplan äußern. "Wir geben im Moment keine Auskunft an die Presse, da die Details unserer Arbeit vertraulich sind", schrieb Watts in einer Email.

Aus dem Marketingmaterial geht jedoch hervor, dass das Unternehmen die Haupteinsatzgebiete für seine Technologie bei Regierungs- und Strafverfolgungsbehörden sieht. Im Beirat des Unternehmens sitzen mit James Woolsey, einem ehemaligen CIA-Direktor, und Oliver Revell, einem ehemaligen stellvertretenden FBI-Direktor, bisher nur zwei Vertreter.

Corsights Ansinnen gilt allerdings unter Experten auf diesem Gebiet als fachlich unhaltbar. Die Wissenschaft für ein solches System existiere noch nicht. Zudem würde das Produkt die ethischen, datenschutzrechtlichen und Voreingenommenheitsprobleme, die die Gesichtserkennungstechnologie bereits verursacht, weiter verschärfen. Noch besorgniserregender ist, dass es ein Signal für die Zukunftsambitionen der Industrie ist, in der die Gesichtserkennung eine Facette eines umfassenderen Bemühens wird, Menschen mit allen verfügbaren Mitteln zu identifizieren – darunter auch mit ungenauen.

"Diese Präsentation war das erste Mal, dass IPVM von einem Unternehmen erfuhr, das versuchte, ein Gesichtserkennungsprodukt in Verbindung mit einer DNA-Probe zu vermarkten", sagt Don Maye, Leiter des unabhängigen Informationsdienstes für Videoüberwachung IPVM. Dieser Artikel entstand in Zusammenarbeit mit ihm.

Corsights Idee ist nicht ganz neu. Human Longevity, ein von den Silicon-Valley-Prominenten Craig Venter und Peter Diamandis gegründetes Unternehmen für "genombasierte Gesundheitsintelligenz", behauptete bereits 2017, DNA zur Vorhersage von Gesichtern verwendet zu haben. Schon damals hegten Experten Zweifel daran, wie MIT Technology Review berichtete. Einem ehemaligen Mitarbeiter von Human Longevity zufolge war das Unternehmen nicht in der Lage, allein anhand des Genoms jemanden aus einer Menschenmenge herauszupicken. Yaniv Erlich, Wissenschaftsvorstand der Genealogie-Plattform MyHeritage, veröffentlichte ebenfalls eine Antwort, in der er große Mängel in der Forschung darlegte.

Auch das kleine DNA-Informatikunternehmen Parabon NanoLabs bietet Strafverfolgungsbehörden physische Bilder von Personen an, die aus DNA-Proben abgeleitet wurden. Dafür nutzt Parabon eine Produktlinie namens Snapshot, die sowohl genetische Genealogie als auch 3D-Darstellungen eines Gesichts umfasst. Das Unternehmen veröffentlicht auf seiner Website Fälle mit Vergleichen zwischen Fotos von Personen, an denen die Behörden interessiert sind, und Renderings, die das Unternehmen erstellt hat.

Parabons computergenerierte Kompositbilder enthalten auch phänotypische Merkmale wie die Augen- und Hautfarbe, jeweils mit einem Vertrauenswert versehen. So gibt ein Bild beispielsweise an, dass die gesuchte Person mit einer Wahrscheinlichkeit von 80 Prozent blaue Augen hat. Darüber hinaus bearbeiten forensische Künstler die Kompositbilder, um endgültige Gesichtsmodelle zu erstellen. Diese enthalten dann – wann immer vorhanden – auch Beschreibungen von nicht-genetischen Faktoren wie Gewicht und Alter.

Die Software helfe im Durchschnitt einen Fall pro Woche zu lösen, behauptet Parabon auf seiner Webseite. In den letzten sieben Jahren seien es mehr als 600 Fälle gewesen, sagt Ellen McRae Greytak, die Parabons Bioinformatikabteilung leitet – wiewohl es in den meisten Fällen eher durch genetische Genealogie als durch Kompositanalyse geschah. Greytak zufolge sei ihr Unternehmen in die Kritik geraten, weil es seine proprietären Methoden und Daten aufgrund einer "geschäftlichen Entscheidung" nicht veröffentlicht.

Parabon bietet allerdings keine Gesichtserkennungs-KI für seinen Phänotypisierungsdienst an und legt fest, dass seine Kunden aus der Strafverfolgung die aus DNA-Proben erzeugten Bilder nicht als Input für Gesichtserkennungssysteme verwenden dürfen. Die Technologie "sagt Ihnen nicht die genaue Anzahl der Millimeter zwischen den Augen oder das Verhältnis zwischen Augen, Nase und Mund", sagt Greytak. Ohne diese Art von Präzision können Gesichtserkennungsalgorithmen keine genauen Ergebnisse liefern.

Die Ableitung solch präziser Messungen aus der DNA würde grundlegend neue wissenschaftliche Entdeckungen erfordern, und "die Arbeiten, die versucht haben, Vorhersagen auf dieser Ebene zu machen, hatten nicht viel Erfolg". Greytak zufolge sagt Parabon nur die allgemeine Gesichtsform einer Person vorher. Aber auch die wissenschaftliche Machbarkeit einer solchen Vorhersage wurde bereits in Frage gestellt.