Ukraine-Krieg treibt Europäer zum Umdenken bei Energieversorgung

Der Konflikt steigert die Energiekosten weiter und zwingt die EU, sich mit ihrer Abhängigkeit von russischem Erdgas auseinanderzusetzen.

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2 Erdgas-Pumpen in einem Feld in Schneesturm

(Bild: Daniel AJ Sokolov)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • James Temple
Inhaltsverzeichnis

Die Entscheidung des russischen Präsidenten Wladimir Putin, die Ukraine anzugreifen, hat viele entsetzt. Neben vielen weiteren Sorgen, ist die Befürchtung groß, dass der jetzt eskalierende Konflikt und die Sanktionen die weltweite Versorgung mit fossilen Brennstoffen gefährden könnte.

Russland ist einer der größten Erdöl-, Erdgas- und Kohleproduzenten der Welt. Jede Einschränkung des Exports wird sich global auswirken: die Preise schnellen in die Höhe und bremsen das Wirtschaftswachstum. Westeuropa ist besonders gefährdet, weil es stark von Russlands fossilen Brennstoffen abhängig ist – und das, obwohl es sich in den letzten Jahren bemüht hat, auf sauberere Energiequellen umzusteigen.

Erdöl, Erdgas, Kohle und andere fossile Brennstoffe machen laut einem Bericht der Europäischen Kommission vom letzten Jahr mehr als 70 Prozent des gesamten Energieverbrauchs in der Europäischen Union aus. Russland lieferte mehr als 41 Prozent des Erdgases, fast 27 Prozent des Rohöls und Flüssiggases sowie etwa 47 Prozent der Kohle.

Selbst Deutschland, das als größte europäische Volkswirtschaft viel in erneuerbare Energiequellen investiert hat, ist immer noch stark von fossilen Brennstoffen abhängig, insbesondere für Heizung und Verkehr. Nicht-fossile Energiequellen decken nur 16 Prozent bzw. 7,5 Prozent dieses Bedarfs.

Als Reaktion auf Putins Vorgehen kündigte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz an, die Zertifizierung der Nord Stream 2-Pipeline, durch die Erdgas von Russland nach Norddeutschland transportiert werden sollte, zu stoppen.

Darüber hinaus verhängten die Europäische Union und die Vereinigten Staaten eine Reihe von Sanktionen, darunter strenge Beschränkungen für einige staatliche Finanzinstitute und russische Eliten.

US-Präsident Joe Biden kündigte noch strengere Maßnahmen gegen Russland an, "wenn es seine Aggression fortsetzt". Er betonte, seine Regierung wolle sicherstellen, dass der Konflikt die Energiekosten für die amerikanischen Verbraucher nicht in die Höhe treibe. "Wir stimmen uns mit den wichtigsten Öl-Produzenten ab, um gemeinsam in die Sicherung der Stabilität der globalen Energieversorgung zu investieren", sagte Biden laut CNN am Dienstag im Weißen Haus. "Das wird die Gaspreise senken. Ich möchte den Frust der US-Bürger an der Zapfsäule begrenzen."

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Gleich mehrere Szenarien würden zu steigenden Energiepreise führen: Internationale Sanktionen könnten direkt oder indirekt die Produktions- und Vertriebskosten für fossile Brennstoffe in die Höhe treiben. Durch den Konflikt selbst könnten die Erdgaspipelines durch die Ukraine Schaden nehmen. Und Russland könnte beschließen, die Lieferungen aus strategischen Gründen zu verlangsamen oder sogar einzustellen.

Während die europäischen Länder andere Öl- und Kohlequellen anzapfen können, gibt es für Erdgas wenig Alternativen. Denn die globalen Vorräte sowie die bislang bestehenden Pipelines sind knapp. Würde Russland die Erdgaslieferung an Westeuropa komplett und über einen längeren Zeitraum abschalten, erfordere das umfassende Maßnahmen, um Haushalte weiter heizen und die Industrie am Laufen halten zu können, so eine aktuelle Analyse des wirtschaftswissenschaftlichen Think Tanks Bruegel. Dazu würden zählen: den Energiebedarf zu senken, die heimische Produktion zu steigern, Notreserven zu nutzen, alternative Lieferanten zu suchen, Atomkraftwerke erst später als geplant abzuschalten und möglicherweise sogar, stillgelegte Kohlekraftwerke wieder in Betrieb zu nehmen.

Aufgrund der engen Verflechtung zwischen Russland und Westeuropa wäre ein solches Worst-Case-Szenario jedoch "höchst unwahrscheinlich", meint Laurent Ruseckas, Executive Director bei IHS Markit, einer Beratungsfirma, die sich auf die Gasmärkte in Europa und Asien konzentriert. Denn Russland würde nicht nur eine wichtige Einnahmequelle verlieren, sondern auch Westeuropa deutlich verärgern. Das würde die Länder zwingen, extreme Maßnahmen zu ergreifen, um ihre Abhängigkeit von den Erdgasimporten ein für alle Mal zu beenden. Einige Beobachter befürchten, dass weitere Länder in den Konflikt hineingezogen werden und es zu noch kostspieligeren Sanktionen käme.

Putin erklärte, Russland werde die Erdgaslieferungen an die internationalen Märkte nicht unterbrechen. Dennoch demonstriert die Situation, wie verwundbar Europa ist – insbesondere nach den Preissteigerungen der letzten Monate. Für diese Preiserhöhungen gibt es mehrere Gründe: erstens erholt sich die Weltwirtschaft nach der Pandemie wieder, weil viele Beschränkungen aufgehoben wurden; zweitens ein besonders strenger Winter 2020/2021 in Europa, der die Erdgasreserven erschöpfte; drittens der steigende Verbrauch von Flüssigerdgas in China und geringere Erdgasexporte als üblich aus Russland. Die Verknappung des Angebots wird von einigen als Strategie Russlands angesehen, um die Preise in die Höhe zu treiben oder die Genehmigung für die Nord Stream 2-Pipeline durch Deutschland zu erzwingen.

Nun werden Befürchtungen laut, dass die Ereignisse in der Ukraine und die sich daraus ergebenden Unsicherheiten für die Energieversorgung die europäischen Staats- und Regierungschefs von den für Mitte des Jahrhunderts geplanten Klimazielen ablenken könne. Sicherlich werden einige Politiker und öffentliche Stimmen argumentieren, die Klimapolitik und die Umstellung auf erneuerbare Energiequellen sei für die prekäre Energieversorgung Europas verantwortlich. Als Beispiel dafür gilt die ungewöhnlich geringe Windenergieerzeugung im Vereinigten Königreich während der letzten Monate – eine Folge von außergewöhnlich schwachen Winden in der Region.

Nikos Tsafos vom Center for Strategic and International Studies jedoch widerspricht diesen Ansichten. Weitere Preisspitzen würden die Europäische Union eher dazu veranlassen, die Umstellung auf saubere Energie deutlich zu beschleunigen. Bereits jetzt hat die EU einige der weltweit ehrgeizigsten klimapolitischen Maßnahmen ergriffen und festgelegt, in relativ kurzer Zeit auf kohlenstofffreie Energieerzeugung und industrielle Verfahren umzustellen. Viele dieser Maßnahmen bieten nun auch einen Schutz gegen eine schlechtere Versorgung mit fossilen Brennstoffen.

Dennoch wird die Abkehr von Erdgas wahrscheinlich nur schrittweise erfolgen, meint Anne-Sophie Corbeau, Wissenschaftlerin am Center on Global Energy Policy der Columbia University. Einige osteuropäische Länder planen nach wie vor, von Kohle auf Erdgas umzustellen, wodurch die Nachfrage sogar noch wächst. Darüber hinaus spielt Erdgas eine entscheidende Rolle dabei, Energieengpässe auszugleichen, wenn Sonnen- und Windenergie nicht ausreichen.

Verschiedene Länder erforschen Alternativen, darunter die Produktion von sogenanntem erneuerbarem Erdgas, das aus organischem Material wie Viehdung und Lebensmittelabfällen hergestellt werden kann. Eine wachsende Zahl europäischer Unternehmen baut zudem Anlagen, um sauberen Wasserstoff zu produzieren. Das Gas könnte auch als Energiespeicher und als Ausgangsstoff für industrielle Prozesse genutzt werden. Es wird jedoch noch lange dauern, bis eine dieser Alternativen in größerem Umfang zum Einsatz kommt. "Klar ist: Es gibt keine einfachen Lösungen, um vom russischen Gas loszukommen", sagt Corbeau.

(jle)