Kommentar: Gerichte müssen grobe Schlampereien der Verkehrspolitik ausbügeln

"Mobilitätswende" ist ein heute gerne benutztes Wort. Es sieht ganz danach aus, als sei das nur ein neues Kleid für das alte "freie Fahrt für freie Bürger".

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In einer Bremer Wohnstraße.

(Bild: heise online / Andreas Wilkens)

Lesezeit: 4 Min.

Zwei Gerichtsverfahren zeigen in diesen Tagen, dass die Verkehrspolitik in deutschen Städten – gelinde gesagt – schiefläuft. In dem einen Fall seit Jahrzehnten, in dem anderen Fall in jüngster Zeit. In Bremen muss die Straßenverkehrsbehörde nach einem Verwaltungsgerichtsurteil gegen tausende Autos einschreiten, die aufgesetzt auf Gehwegen parken. In Münster muss die Stadt dafür sorgen, dass nicht mehr so wie bisher E-Stehroller überall wahllos herumliegen und stehen. In beiden Fällen geht es darum, dass sich Menschen auf Fußwegen stark eingeschränkt oder gar gefährdet sehen, und das sind keine auf diese beiden Städte beschränkten Phänomene, deshalb kann von den beiden Gerichtsverfahren eine starke Strahlkraft ausgehen.

Überall in Deutschland haben sich seit Juni 2019 die Verleiher von E-Stehrollern ausgebreitet und lassen ihre Mikromobilien stehen und liegen, wie es ihrer meist jungen Kundschaft gefällt. Stach ihre Präsenz anfangs noch stark ins Auge, gehören die Roller mittlerweile fast normal zum Straßenbild. Für die, die sie gut sehen können; für die anderen werden sie zu einer immer wieder überraschend auftauchenden Stolperfalle. Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) will das beenden und fordert ein Ende des "free floating" in Münster, also feste Verleihstationen, die gut als mögliche Gefahr gekennzeichnet sind. Das dortige Verwaltungsgericht hat sich nicht getraut, der Forderung rundum zu entsprechen, die Stadtverwaltung darf irgendwie herumwurschteln, um dem sehr berechtigten Anspruch der Blinden und Sehbehinderten gerecht zu werden.

Andreas Wilkens

kommt aus den Kulturwissenschaften, wurde frühzeitig in seinem Studium mit Computern konfrontiert – als Arbeitsmittel und Verdienstmöglichkeit. Er kümmert sich im Newsroom von heise online um die Nachrichten aus der IT-Welt.

Das sieht dann so aus: Die Reaktionszeit auf mögliche Beschwerden wird auf maximal zwölf Stunden festgesetzt; Verleihfirmen müssen ihre Hotline-Telefonnummer an den Fahrzeugen deutlicher kennzeichnen, ab Mitte dieses Monats sollen die "freiwilligen Selbstvereinbarungen" der Verleiher durch "verbindliche Genehmigungsverfahren" abgelöst werden – und noch anderes Halb-, ach was, Achtelherziges. Das erweckt stark den Eindruck, als wolle Münster alles dafür tun, um den Verleihern nicht einen wichtigen Teil ihres Geschäftsmodells zu nehmen, als seien die E-Stehroller ein wichtiger Faktor der "Mobilitätswende". Ob er wirklich einer ist, steht stark zur Frage, wie die Verkehrsforschung nachzuweisen nicht müde wird.

An der "Mobilitätswende" wurschtelt auch Bremen herum, ein Teil davon ist ein Konzept namens "Parken in Quartieren". Das besteht unter anderem aus Bewohnerparken, Fahrradabstellplätzen, markiertes Parken, Bürgerbeteiligung, Sonderparkplätzen, einer App für Parkplätze, Stations-Carsharing und Quartiergaragen. Alles zum Wohl der Mobilitätswende, der Erreichbarkeit und der Aufenthaltsqualität und für weniger "Parkdruck". Das hat bisher an den geschätzt 50.000 illegalen Autoimmobilien nichts geändert.

Wenn es um Urteilsschelte geht, wurschtelt die Bremer Regierung nicht herum, insbesondere in Person des Innensenators Ulrich Mäurer. Der nennt die Entscheidung des Verwaltungsgerichts "völlig lebensfremd". Die Autos würden sich nicht einfach in Luft auflösen. Dabei hatte das Gericht klipp und klar gesagt, dass sich die Falschparker nicht auf ein "Gewohnheitsrecht" berufen könnten, auf Gehwegen parken war noch nie legal und dagegen muss eingeschritten werden.

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Wenn der Bremer Senat gegen dieses Urteil Berufung einlegt, und das hat er, dann will er illegales Verhalten weiterhin tolerieren. Das ist für einen Innensenator, der für die Sicherheit der Gesellschaft zuständig ist, sehr bemerkenswert. Politiker in Innenressorts sind sonst meist harte Hunde, hier aber stellt einer das Wohl der Autofahrer über die Sicherheit der Gehwegnutzer, die beispielsweise an Engstellen auf die Fahrbahn ausweichen müssen.

Und in Münster? "Wenn sich die Stadt den Beschluss anschaut, muss sie nur eins und eins zusammenzählen und mit entsprechend abgefassten Sondernutzungserlaubnissen verbindliche Abstellflächen und klare Regeln für E-Roller durchsetzen", meint DBSV-Präsident Klaus Hahn. Die Stadt könnte das auch nach dem Gerichtsbeschluss, sie will es aber offensichtlich überhaupt nicht. So werden die Verfahren in beiden Städten in eine weitere Runde gehen, Gerichte müssen dafür sorgen, dass Verkehrs- und Innenpolitiker endlich zur Besinnung kommen. Damit "Mobilitätswende" nicht einfach nur ein neumodischer Scheinersatz für das angestaubte "freie Fahrt für freie Bürger" ist.

E-Stehroller im öffentlichen Verkehr (76 Bilder)

Seit dem 15. Juni 2019 sind Elektro-Stehroller, auch E-Tretroller oder E-Scooter genannt, auf öffentlichen Straßen in Deutschland zugelassen. Schon wurden die ersten in deutschen Städten gesichtet.
(Bild: Lime)

(anw)