Russische IT-Fachkräfte suchen im Ausland neue Jobs

Zehntausende IT-Fachleute haben Russland verlassen, um sich anderswo Arbeit zu suchen. Manche Zielländer werben die gut ausgebildeten Spezialisten an.

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4 Computermonitore samt Tastaturen und Mäusen stehen in einer Reihe auf Tischen

(Bild: Tomasz Mikolajczyk, Pixabay)

Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Dorothee Wiegand
Inhaltsverzeichnis

Mehr als 50.000 IT-Fachkräfte seien aus Russland ausgereist, hat die Russian Association of Electronic Communications (RAEC) schon am 21. März gemeldet. Auf einer Sitzung des IT-Ausschusses der Staatsduma zum Thema "Weiterentwicklung der IT-Branche unter Sanktionen" berichtete RAEC-Chef Sergei Plugotarenko sogar von 70.000 Personen, die auf der Suche nach einem neuen Job bereits das Land verlassen hätten.

Um weitere Abwanderung zu verhindern, hat der russische Präsident die Regierung angewiesen, Fachkräfte in der IT-Branche bis Ende 2024 von der Einkommensteuer zu befreien. Zudem winkt Mitarbeiter der russischen IT-Branche die Freistellung vom Militärdienst. Günstige Kredite für diese Unternehmen sollen den Jobmarkt stützen. Doch laut Plugotarenko ist der Abwanderungstrend ungebrochen.

Lediglich die hohen Preise für Flugtickets hielten viele IT-Talente noch davon ab, ins Ausland zu gehen. Nach Russlands Angriff auf die Ukraine waren plötzlich die Busse und Züge von St. Petersburg nach Helsinki ausgebucht. Das staatliche finnische Bahnunternehmen VR, das die Züge in einem Joint Venture mit seinem russischen Pendant RŽD betreibt, wollte zusätzliche Umläufe anbieten. Stattdessen musste die Verbindung am 27. März eingestellt werden. Es war die letzte Bahnverbindung zwischen Russland und der Europäischen Union.

Bei dieser Prognose stützt er sich auf eine Ende März veröffentlichte Umfrage des russischen IT-Blogs Habr (bis 2018: "Habrahabr"). An der Umfrage nahmen knapp 3000 Personen teil, laut Habr vor allem Entwickler, Administratoren, DevOps und Tester zwischen 25 und 40 Jahren.

Die Website des russischen Verbands für elektronische Kommunikation RAEC (im Bild die deutsche Übersetzung von Google) spricht explizit von einem „Brain Drain“ bei IT-Fachkräften.

Sieben Prozent von ihnen berichteten von Gehaltskürzungen oder -verzögerungen. Vier Prozent gaben an, durch Stellenabbau oder Firmenschließungen ihren Arbeitsplatz verloren zu haben. Jeder dritte Befragte berichtete, sein Unternehmen plane weniger oder gar keine Neueinstellungen, und 16 Prozent der Umfrageteilnehmer beschäftigte die Sorge, dass ihr Unternehmen in diesem Jahr schließen oder zumindest deutlich weniger Umsatz erzielen könnte.

Jeder dritte russische IT-Spezialist sucht der Umfrage zufolge inzwischen einen Job in einem Unternehmen, das Arbeitsplätze außerhalb Russlands anbietet, und jeder zweite plant, eine Fremdsprache zu erlernen.

Es sind nicht nur Einzelpersonen, die das Land als Folge des Kriegs gegen die Ukraine und der damit verbundenen Sanktionen gegenüber Russland verlassen. Viele Firmen schließen ihre russischen Niederlassungen und verlagern deren Geschäfte und Arbeitsplätze in andere Länder. So haben sich etliche europäische und US-amerikanische Unternehmen inzwischen vollständig aus Russland zurückgezogen; andere schränken die Geschäfte ein, leisten aber weiterhin Support für Bestandskunden.

Auch SAP ging anfangs so vor, was dazu führte, dass sich die Belegschaft öffentlich kritisch äußerte. Mitte März hat dann der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj explizit Microsoft, Oracle und SAP aufgefordert, sämtliche Geschäftsaktivitäten in Russland zu beenden. Kurz darauf entschied man sich das Unternehmen, nicht nur das Neugeschäft, sondern auch die Clouddienste für Kunden in Russland einzustellen. Selbst beschreibt SAP das als "geordneten Ausstieg" aus dem Russlandgeschäft.

Auch die Deutsche Telekom verhielt sich zunächst zögerlich. Nachdem der Gesamtbetriebsrat den vollständigen Rückzug aus Russland gefordert hatte, gab die Telekom schließlich bekannt, alle dortigen Aktivitäten einzustellen. Insbesondere schließt die Telekom ihre Entwicklungsstandorte in Russland. Das Unternehmen hatte in St. Petersburg und an zwei anderen Standorten rund 2000 Entwickler beschäftigt, denen es inzwischen Arbeitsplätze außerhalb Russlands angeboten hat.

Die IT-Fachleute reisen in unterschiedliche Länder aus. Bei denjenigen, die ein EU-Visum haben, stehen die EU-Mitgliedsstaaten Polen, Lettland und Litauen hoch im Kurs. Zu den Ländern, in die russische Staatsbürger ohne Visum einreisen dürfen, gehören Armenien und Georgien sowie die früheren Sowjetrepubliken in Zentralasien: Usbekistan, Kirgisistan, Turkmenistan, Tadschikistan und Kasachstan. Sie sind unter anderem deswegen als Ziel beliebt, weil dort zum Teil noch Russisch gesprochen wird. Auch die Türkei und die Vereinigten Arabischen Emirate stehen auf der Wunschliste der Auswanderer.

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Einige Länder zeigen sich interessiert an den russischen IT-Experten, die als überdurchschnittlich gut ausgebildet gelten. So hat etwa Usbekistan den Zugang zu Arbeitsvisa und Aufenthaltsbewilligungen für die meist jungen Talente erleichtert. An anderen Orten überwöge das Misstrauen gegenüber IT-Spezialisten aus Russland und die Angst vor Spionage, berichtet das Nachrichtenportal des RedaktionsNetzwerkes Deutschland. Es zitiert den litauischen Journalisten und Politikexperten Marius Laurinavicius, der vor der Gefahr warnt, "Teile des kriminellen Systems aus Russland zu importieren".

(dwi)