Was steckt hinter der neuen Corona-Variante BA.2.75?

Sie schien sich seit Mai in Indien auszubreiten. Bedenken, dass hier die nächste Welle rollen könnte, scheinen bisher aber noch verfrüht zu sein.​

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(Bild: Corona Borealis Studio/Shutterstock.com)

Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Veronika Szentpetery-Kessler

Seit Mai dieses Jahres haben Experten und Gesundheitsbehörden eine neue Corona-Variante genauer im Blick. BA.2.75 wurde in Indien entdeckt und schien sich dort auszubreiten. Als die Variante auch in etlichen europäischen Ländern und in den USA auftauchte, wuchs die Sorge, dass sich hier die nächste, auf die aktuell dominante BA.5-Variante folgende Welle abzeichnen könnte. Diese Sorge hat sich bisher allerdings noch nicht erhärtet.

In seinem letzten Wochen-Bulletin vom 11. Juli erwähnt das Indische Sars-CoV-2 Konsortium (INSACOG) BA.2.75 zwar, beziffert seinen Anteil an den zirkulierenden Varianten aber nicht. Die Virusversion werde in jedem Bundesstaat beobachtet, bisher habe man aber keine schwereren Krankheitsverläufe und keinen Anstieg bei den Hospitalisierungen gesehen. Es dominierten weiterhin BA.2 an erster und BA.2.38 an zweiter Stelle. Seither hat das INSACOG keine weiteren Zahlen veröffentlicht, ganz aktuelle Zahlen fehlen also. Das indische Gesundheitsministerium sieht ebenfalls keine lokal hochschnellenden Fallzahlen, sondern eine recht verstreute Ausbreitung.

Die Europäische Gesundheitsbehörde ECDC und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) verfolgen BA.2.75 ebenfalls, bisher aber nur als "Variante von Interesse" (VOI) und – in einer neu geschaffenen Kategorie – als "beobachtete Omikron-Untervariante". Das bedeutet, dass die Behörden Belege für eine veränderte Verbreitung sehen, zum Beispiel durch eine größere Ansteckungsgefahr, durch schwerere Verläufe oder durch abnehmende Immunität der Bevölkerung. Was genau ihr Interesse geweckt hat, wurde nicht veröffentlicht.

Die BA.2.75-Variante des Sars-Cov-2-Virus ist ein Abkömmling der früheren BA.2-Version und hat acht neue Mutationen auf dem für das Binden an Zielzellen verantwortliche Spike-Protein angesammelt. Die Mutationen betreffen bis dahin unveränderte Spike-Regionen. Einige Mutationen scheinen das Virus besser an unsere Zellen binden zu lassen. Andere Veränderungen könnten bewirken, dass unsere Antikörper schlechter passen und den Erreger weniger effektiv aus dem Verkehr ziehen.

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Diese Potenziale und die geografische Verbreitung löste etwa beim Molekularbiologen Ulrich Elling vom Institut für Molekulare Biotechnologie Wien Bedenken aus. Zwischen BA.2 und der aktuell weltweit dominierenden BA.5-Variante – zumindest auf dem Spike-Protein – lägen nur drei Mutationen, trotzdem entzieht sich BA.5 dem Immunsystem deutlich besser.

Auch das Robert-Koch-Institut (RKI) konstatierte in seinem aktuellen Wochenbericht vom 28. Juli, wenn auch etwas knapp: "Das Mutationsprofil dieser Variante deutet auf ausgeprägte Immunfluchteigenschaften hin." Allerdings sei derzeit noch unklar, ob das einen Wachstumsvorteil gegenüber dem "BA.4 und BA.5-dominierten Geschehen, wie in Deutschland" bedeute. Hierzulande verzeichnete das RKI bisher gerade mal vier sequenzierte BA.2.75-Fälle, wenngleich die Dunkelziffer wie immer höher liegen dürfte. Seither wurde BA.2.75 auch in einigen europäischen Ländern in ein- bis zweistelligen Fallzahlen detektiert.

Aktuellere Zahlen aus Asien twitterte der australische Datenvisualisierungsspezialist Mike Honey, der in der internationalen Genomsequenz-Datenbank GISAID nach zwei für BA.2.75 spezifischen Mutationen gesucht hatte. Demnach betrug der BA.2.75-Anteil an den sequenzierten Proben in Indien Ende Juni 18 Prozent. Ebenfalls anhand von GISAID-Daten ermittelte Honey Ende Juli in Singapur pro Tag einen fünfprozentigen Wachstumsvorteil von BA.2.75 gegenüber allen anderen BA.2-Varianten und einen zehnprozentigen Wachstumsvorteil gegenüber BA.5 und BA.4 aus.

Inwieweit das so bleibt, muss sich noch zeigen. Es scheint insgesamt zu früh für ein abschließende Prognose zu sein, ob und wie stark sich VA.2.75 ausbreiten wird und ob sie BA.5 verdrängen kann. In Indien selbst könnten inoffizellen Zahlen des unabhängigen Datenanalysten Vijay Anand zufolge die Gesamt-Wachstumsspitze in einigen Provinzen bereits überschritten sein und die Fallzahlen vielerorts wieder abnehmen.

Mehrere Experten halten die Sorgen über eine starke Ausbreitung der BA.2.75-Variante, die von einem Twitter-Nutzer auf den einprägsamen Namen "Centaurus", also dem wilden Zentauren aus der griechischen Mythologie, getauft wurde, für unbegründet. Zum einen stiegen die Fallzahlen nur in einigen Provinzen stark an, in denen zuvor nicht BA.5, sondern BA.2 dominant gewesen war, sagte der US-Kardiologe Eric Topol vom kalifornischen Scripps Research Translational Institute, der regelmäßig neue Corona-Fachveröffentlichungen auf Twitter kuratiert.

Der auf die Ausbreitung von Infektionskrankheiten spezialisierte Bioinformatiker Tulio de Oliveira von der südafrikanischen Stellenbosch University wurde noch deutlicher: "Ich stimme nicht damit überein, dass BA.2.75 oder Centaurus besorgniserregend ist". Die Fallzahlen und vor allem die Todesfälle seien in Indien nur wenig angestiegen. Auch steige die Prävalenz, also Krankheitshäufigkeit, nicht. Zu guter Letzt gebe es bisher keine Daten, die auf eine veränderte – verschlimmerte – Pathogenität hinwiesen. Der Wissenschaftler hatte mit seinem Team als erster die Beta- und Omikron-Varianten identifiziert.

(vsz)