Kommentar: Lassen Sie Ihre Arbeitsmails doch einfach mal auf "ungelesen"

Statt den Komfort für Nutzer zu erhöhen, sorgen die Features im neuen Outlook nur für noch mehr unnötigen Stress bei der Mailarbeit, findet Moritz Förster.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 188 Kommentare lesen

(Bild: fizkes/Shutterstock.com)

Lesezeit: 4 Min.
Inhaltsverzeichnis

Ein Abgrund sozialer Netze ist, dass sie die Aufmerksamkeit ihrer Nutzer möglichst komplett an sich reißen müssen. Das zahlt sich aus – für Facebook und Twitter, nicht für die ausgesaugten Menschen. Aber selbst die altehrwürdige und vergeblich totgesagte E-Mail ist nun auf dem Weg zum Produktivitätskiller. Hauptschuldiger ist Outlook, für viele Büroangestellte gleichbedeutend mit elektronischer Kommunikation. Denn das soll nun ganz neue Wege gehen. Doch statt wie im Namen versprochen den Durchblick zu liefern, verdonnert uns Microsoft endgültig zum Leben in der Inbox.

Ein Kommentar von Moritz Förster

Moritz Förster schreibt seit 2012 für die iX und heise online. Er betreut neben dem iX-Channel die Bereiche Arbeitsplatz und Server.

Aber was läuft hier falsch? Im besten Fall strukturieren die Anwender ihren Arbeitstag nach wichtigen Aufgaben und konzentrieren sich darauf. Im Kalender sind klare Zeiten für langfristige Projekte und Meetings von echter Bedeutung vorgesehen. Systeme fürs Zeitmanagement gibt es seit vordigitalen Zeiten genug, Ansätze wie der von Eisenhower oder die POSEC-Methode sind leicht zu verstehen.

Ganz im Gegensatz dazu das dynamisch entstandene E-Mail-Vorgehen: Der Posteingang gibt den Alltag vor, eingehende Nachrichten bestimmen, was wichtig ist, und keine ungelesenen Mails zu haben ist eine echte Errungenschaft. Immerhin muss man dafür ganz schön beschäftigt gewesen sein – und wird es auch bleiben. Diese völlig unbeabsichtigt entstandene Methode hat nichts mit wirklich produktiver und womöglich erfüllender Arbeit zu tun, durchgesetzt hat sie sich trotzdem.

IX NEWSLETTER: MONATLICH SPANNENDE HINTERGRÜNDE ZUR NEUEN AUSGABE

Kennen Sie schon den kostenlosen iX-Newsletter? Jetzt anmelden und monatlich zum Erscheinungsdatum nichts verpassen: heise.de/s/NY1E In der nächsten Ausgabe geht's ums Titelthema der November-iX: Cloud-nativ entwickeln.

Natürlich könnte man das Bearbeiten von E-Mails problemlos in einen gut geplanten Tag integrieren. Aber nicht mit Microsoft, hier ist mehr fremdbestimmtes denn aktiv gestaltetes Tagewerk angesagt: Outlook soll automatisch aus den Nachrichten Termine erstellen und den Kalender bestücken. Ein Klick und schwups, steht ein neues Meeting an. Davor waren ja erst drei eingetragen, da geht noch mehr. Fehlt nur noch, dass der Assistent nachfragt, ob man nicht gleich einen wöchentlichen Jour fixe einrichten will. Auch individuelle Aufgaben lassen sich so – zu schnell und einfach – generieren. Da gibt es sicher toll viel zum Abhaken.

Außerdem soll Outlook künftig wichtige Nachrichten oben an den Posteingang anheften. Das geschieht automatisch, auch wenn nicht klar ist, wie das Programm die Relevanz für den Nutzer erkennen soll. Vielleicht genügt es, schlicht ein „Dringend“ in die Betreffzeile zu packen – aber es wird definitiv ein spannendes SEO-Feld, wie das Marketing künftig um den ersten Platz buhlt. Selbstverständlich kann man auch händisch E-Mails anpinnen. So motiviert Outlook nicht dazu, in einem Schwung den ganzen Kram abzuarbeiten, sondern schön viel Grübel- und Aufschiebezeit in die Inbox zu stecken.

Microsoft verkauft all das als Produktivitätsfunktionen. Stimmt auch irgendwie, denn wer sich seinen Arbeitstag schon jetzt durch die Mails vorgeben lässt, kann das bald noch einfacher tun. Juchhei: Da stellt man bald einen neuen Antwortrekord auf, fegt 80 statt bloß läppische 50 Tasks vom Tisch und hat auch im sechsten Meeting noch was gesagt. Nur noch Alt + Tab zwischen Outlook und MS Teams, keinesfalls rapide im Batch die wenige Kommunikation von tatsächlichem Belang abräumen.

Ich als bekennender Desk-Jockey fordere: Menschen aller Schreibtische, befreit euch von den E-Mail-Ketten! Deaktiviert alle Outlook-Benachrichtigungen! Zwei Stunden gemeinsame Kreativmittagspause mit Kollegen in den Kalender! Mut zur Inbox-Zehntausend! Wenns wirklich wichtig ist, dann ruft schon jemand an, versprochen.

Bei diesem Kommentar handelt es sich um das Editorial der iX 11/2022, die am 20. Oktober erscheint.

(fo)