Stereotypen überwinden: Was helfen würde, die Diversität zu erhöhen

Zum Weltfrauentag ein Blick auf die Wissenschaft und Techbranche. Seit Jahren wird vor der massiven Ungleichheit gewarnt. Aber: Es tut sich fast nichts.

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Von
  • Eva Wolfangel
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Lippenbekenntnisse sind nichts, womit sie sich zufriedengibt, das macht Sheila Beladinejad bei ihrem Vortrag auf der Stuttgarter Messe klar. "5 Key Factors That Can Attract Investors to an AI company" lautet der Titel ihres Vortrags. Im Publikum sitzen junge Gründerinnen und Gründer sowie Forschende aus der Informatik, die überlegen, ein Start-up zu gründen. Sie hängen an den Lippen der Frau, die seit mehr als 20 Jahren in der Techbranche aktiv ist und Investoren berät. Von ihrem Urteil hängt oft das Schicksal eines Start-ups ab. Neben einem tragfähigen Businessplan und der Wahl der richtigen KI-Methoden hat Beladinejad auch "Mangel an Diversität als hohes Risiko" auf ihren Folien. "Überseht das nicht", sagt sie und schaut streng ins Publikum.

Dieser Text stammt aus: MIT Technology Review 8/2022

Das Silicon Valley ist ein "Club der weißen Männer" und damit ganz symptomatisch für die Repräsentation von Frauen in der Tech-Branche und in der Wissenschaft. In der neuen Ausgabe von MIT Technology Review geht es genau um diesen Gender Gap. Das neue Heft ist ab dem 10.11. im Handel und ab dem 9.11. bequem im heise shop bestellbar. Highlights aus dem Heft:

Ein Team, das fast ausschließlich aus weißen Männern besteht, sei ein Risikofaktor, warnt sie. Beladinejad ist keine Frauenrechtlerin. Sie würde sich am liebsten weiterhin hauptsächlich mit Künstlicher Intelligenz und Robotik beschäftigen, denn das sind die Themen, die sie eigentlich bewegen. Sie hat unter anderem in der Telekommunikationsbranche gearbeitet, und wer genauer nachfragt, dem fliegen jede Menge Fachbegriffe um die Ohren.

Mit ihrer Expertise im Bereich KI hat die Kanadierin schließlich ein Unternehmen gegründet: Sie analysiert Start-ups für potenzielle Investoren und prüft sie auf Herz und Nieren. Trägt das Konzept? Wie genau wird KI eingesetzt? Sitzen die Leute auf den richtigen Stellen?

Und die richtigen Leute auf diesen richtigen Stellen sind viel zu selten Frauen. Diese Leerstelle entsteht bereits in der Ausbildung. Nach den Erhebungen des Berichts "She figures 2021 – Gender in Research and Innovation" der Europäischen Kommission promovieren vor allem in bestimmten Fächern deutlich weniger Frauen als Männer: In den Naturwissenschaften sind es beispielsweise nur 38,4 Prozent, in Mathematik und Statistik 32,5 Prozent, in der Informations- und Kommunikationstechnik 20,8 Prozent und im Ingenieurwesen und bei den Ingenieursberufen 27 Prozent. "Zwischen 2015 und 2018 gab es nur geringe Fortschritte bei der Erhöhung des Frauenanteils unter den Promovierten in diesen engen MINT-Bereichen", schreibt die Kommission.

Generell sei zwar der Anteil der Hochschulabsolventen in der EU zwischen den Geschlechtern ausgeglichen, so die Studie, dennoch seien Frauen seltener als Wissenschaftlerinnen und Ingenieurinnen beschäftigt als Männer. Und auch Unternehmerinnen gebe es deutlich weniger als männliche Gründer: In den Bereichen Wissenschaft und Technik sowie Informations- und Kommunikationstechnik sei weniger als ein Viertel der Selbstständigen weiblich. "Angesichts der strategischen Bedeutung der Technologieindustrie für die EU-Wirtschaft zeigen diese Daten, dass größere Anstrengungen erforderlich sind, um die Beteiligung von Frauen in diesem Bereich zu erhöhen."

Mehr Sichtbarkeit ist eines der Dinge, die aus Beladinejads Überzeugung jetzt nötig sind. Wenn sie nicht gerade Mitstreiterinnen ermutigt, spricht sie auf Konferenzen – und wer versucht, Frauenthemen auf einer Nebenbühne oder im kleinen Saal abzuhandeln, von dem fordert sie lautstark die Hauptbühne. Kürzlich sei sie auf einer Konferenz des Digitalverbands Bitkom zu KI gewesen, berichtet sie. Politiker und Behördenvertreter hielten tolle Vorträge darüber, wieso Diversity wichtig sei für transparente und vertrauenswürdige KI. Doch als sie die Männer in Anzügen hinterher ansprach und sie aufforderte, Frauen konkret zu unterstützen, sagte einer, sie sei falsch bei ihm, denn er sei vom Wirtschaftsministerium, berichtet sie: "Er sagte: Gehen Sie zum Ministerium für Frauen, Kinder und Senioren, wir kümmern uns um Innovationen." Von einer anderen deutschen Behörde bekam sie gesagt, dass die deutschen Frauen alle Möglichkeiten hätten, sie könnten Robotikerinnen werden, "aber sie wollen einfach nicht" – und man wolle sie auch nicht zwingen.