Stereotypen überwinden: Was helfen würde, die Diversität zu erhöhen

Seite 4: Diversitäts-Fallen

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Diversity bedeutet allerdings mehr, als den Frauenanteil in Disziplinen zu erhöhen, in denen sie unterrepräsentiert sind. Denn ein ausgeglichener Frauenanteil ist nur ein Faktor von vielen auf dem Weg zu Vielfalt in Wissenschaft und Technik. Mareike Lisker beispielsweise weist darauf hin, dass die Nerd-Kultur in der Informatik zwar Frauen abschreckt, aber möglicherweise die Diversität an anderer Stelle erhöht: So gibt es Hinweise darauf, dass die Techbranche besonders inklusiv für Transgender-Personen ist.

Generell sei es wichtig, bei allen Maßnahmen in Richtung Diversity den eigenen Blick auf das Thema zu hinterfragen, sagt Laura Schelenz, die sich an der Uni Tübingen mit ethischen und feministischen Perspektiven auf die Technikentwicklung beschäftigt. Gerade der neue Trend diversitätssensibler Technik – also technische Lösungen, in denen bewusst der Diskriminierung von Frauen und Minderheiten entgegengesteuert wird – sei oft nicht fertig durchdacht: "Manche Diversitätskonzepte schreiben Diskriminierung fort." Ihrer Beobachtung nach wird bei solchen Konzepten zum Beispiel häufig die soziale Ungleichheit übersehen – die aber einen großen Unterschied macht.

Als sie kürzlich in einem Forschungsprojekt mit afghanischen Frauen in Deutschland die Barrieren in der Digitalisierung für die Gruppe untersuchen wollte, sollten sich die Teilnehmerinnen einen Account anlegen, um einen Chatbot zu testen. Dabei habe sich herausgestellt, dass viele von ihnen keinen E-Mail-Account haben. Damit hatte niemand gerechnet, nicht einmal die Diversitäts-Forscherinnen. Das zeigt, wie sehr unsere eigene Realität unseren Blick auf Diversität einschränkt, betont Schelenz – mit problematischen Folgen: "Ungleichheiten werden versteckt, wenn wir sagen: Diese Technologie ist diversitätssensibel."

Innerhalb der Wissenschaft hat der soziale Aspekt der Diversität noch eine ganz andere Dimension, sagt Amrei Bahr, Juniorprofessorin für Technikphilosophie an der Universität Stuttgart: "Nur bestimmte Leute haben eine Chance im System." Sie meint damit: die, die es sich finanziell leisten können. Und an dieser Stelle greift ein strukturelles Problem: Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz erlaubt zeitliche Befristungen bei Jobs in der Wissenschaft über viele Jahre. Vor diesem Befristungsmarathon, der die Forschenden finanziell über Jahre in Unsicherheit hält, sind klassische Arbeitnehmerinnen geschützt. Wer keine guten Startvorteile hat, eine wohlhabende Familie oder in einer finanziell gesicherten Partnerschaft lebt, könne sich die Unsicherheit einer wissenschaftlichen Anstellung schlicht nicht leisten.

Die Stuttgarter Technikphilosophin Amrei Bahr war eine der Initiatorinnen der Twitter-Kampagne #IchBinHanna. Damit haben die jungen Akademikerinnen und Akademiker auf ihre prekäre Situation durch Reihenbefristungen in der Wissenschaft aufmerksam gemacht.

(Bild: Susanne Kurz)

Bahr hat zusammen mit Kristin Eichhorn und Sebastian Kubon im Juni 2021 die Twitter-Aktion #IchBinHanna initiiert. Als Reaktion auf ein Video des Bundesforschungsministeriums, in dem dieses die Befristungen mit Generationengerechtigkeit rechtfertigte. Eine Idee des Ministeriums: Feste Anstellungen machen die Forschenden träge – nur wer sich ständig in einem neuen Umfeld beweisen muss, bringt Innovationen voran.

In der wissenschaftlichen Gemeinschaft zeigt sich jedoch eher das gegenteilige Phänomen: Statt engagiert zu forschen und Netzwerke aufzubauen, sind die befristeten Nachwuchsforschenden ständig auf dem Sprung. Und da Frauen in der Forschung ohnehin früh an die Gläserne Decke stoßen, holen sie sich bei den vielen neuen Bewerbungsprozessen, die sie durch die Befristungen durchlaufen müssen, ständig neue Beulen.

Und auch die viel beschworene Generationengerechtigkeit bleibt auf der Strecke: "Befristung sorgt für wenig Diversität und ist insofern ungerecht", sagt Bahr, die in den vergangenen fünf Jahren acht Arbeitsverträge und teilweise sogar parallel mehrere Teilzeitstellen hatte. Auch ihre Juniorprofessur ist befristet. "Die Chance, dass zum Ende die richtige Lebenszeitprofessur kommt, ist gering." Kommt diese aber nicht, wird es dann – mit 42 Jahren – beruflich eng: Denn mit dem, wofür sie ausgebildet sei, sei sie kaum qualifiziert für Jobs außerhalb der Wissenschaft. "Wer macht das so lange mit, wer kann sich das leisten?", fragt sie.

"Selbst die Privilegierten, die mit Startvorteilen eine wissenschaftliche Karriere beginnen, kämpfen mit den Bedingungen", sagt Bahr. Auch das zeigte die Resonanz auf den Twitter-Hashtag, unter dem unzählige Betroffene prekäre Arbeitsverhältnisse in der Wissenschaft beschrieben haben – eine Dynamik, die schließlich das Ministerium dazu zwang, das Video offline zu nehmen und mit verschiedenen Stellungnahmen zu reagieren.

Weit über 130.000 #IchbinHanna-Tweets und viele Debatten und Verhandlungen später scheint sich etwas zu bewegen. Die wissenschaftlichen Dienste des Bundestags haben sich mit der Evidenz zur Frage beschäftigt, ob Wechsel tatsächlich Innovation befördert – statt sie zu bestätigen, bringt die 13 Seiten starke Untersuchung die Grundlage des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes ist Schwanken. Denn die wissenschaftlichen Dienste finden keinen Beleg dafür, dass Innovation Personaltausch voraussetzt. "Seit Jahren wurde so die Befristungspraxis begründet", sagt Bahr. Im kommenden Jahr wird das Gesetz novelliert. "Wir haben große Hoffnungen", sagt sie, "denn wer Gerechtigkeit und Innovation will, kann auf Diversität nicht verzichten".