Twitter: Warum Werbung für weniger Hate Speech sorgen könnte

Das Twitter-Drama um Elon Musk hat auch sein Gutes: Wir können viel über Social Media lernen – und müssen alte Feindbilder revidieren.

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Würfel zeigen die Buchstaben HATE, darhinter Logos sozialer Netzwerke

(Bild: Lukasz Stefanski/Shutterstock.com)

Lesezeit: 4 Min.

Ich muss Abbitte leisten. Ich habe mich geirrt. Und natürlich habe ich diesen Irrtum fleißig verbreitet in meinen Artikeln, denn schließlich war ich ja davon überzeugt, Recht zu haben.

Worum es geht? Um Werbung. Genauer gesagt, um das Geschäftsmodell der Aufmerksamkeitsökonomie.

Aber der Reihe nach: Seit Jahren wird – zumindest in gewissen Kreisen - heftig darüber diskutiert, wie schädlich soziale Netzwerke sind. Denn sie stehen im Verdacht, durch fiese psychologische Manipulation User an sich zu binden, sie einsam und depressiv zu machen – und dazu auch noch Meinungsbildung, Weltbild und politische Entscheidungsfindung zu manipulieren. Kurz: Für manche Kritiker sind soziale Netzwerke sowas wie Crack für die Psyche – mindestens aber so schädlich wie Zigaretten.

Zu den entschiedensten Kritikern dieser Industrie zählen etwa der ehemalige Google-Ingenieur Tristan Harris und der Philosoph James Williams, die gemeinsam das Center for Humane Technology gründeten, ein Think Tank, der sich für eine Trendwende in der Tech-Industrie einsetzt.

Knackpunkt der Debatte sollten nicht in erster Linie die psychologischen Tricks der Software-Designer sein, meint Williams, sondern das zugrunde liegende Geschäftsmodell, das nur eine Möglichkeit bietet, für diese Dienste zu bezahlen, "und das ist mit Aufmerksamkeit". Je mehr auf die Nutzer einprasselt, umso schwieriger wird es jedoch, sich diese Aufmerksamkeit zu sichern – eine Beobachtung, die der amerikanische Politologe Herbert A. Simon von der Carnegie Mellon University bereits 1971 eher beiläufig unter dem Stichwort "Aufmerksamkeitsökonomie" notierte.

Ein Kommentar von Wolfgang Stieler

Nach dem Studium der Physik wechselte Wolfgang Stieler 1998 zum Journalismus. Bis 2005 arbeitete er bei der c't, um dann als Redakteur der Technology Review zu wirken. Dort betreut er ein breites Themenspektrum von Künstlicher Intelligenz und Robotik über Netzpolitik bis zu Fragen der künftigen Energieversorgung.

"Wenn man die Software so ändern würde, dass sie nicht mehr maximal viel Aufmerksamkeit bindet, würde der Verkauf von Werbung nicht mehr so gut funktionieren“, argumentiert Williams. Und Emotionen, vor allem negative, binden viel Aufmerksamkeit – erhöhen also die Werbewirksamkeit sozialer Netze. Aktivistengruppen haben den Betreibern von sozialen Netzen wie Facebook und Twitter denn auch jahrelang vorgeworfen, kontroverse Inhalte genau deswegen zu tolerieren: weil sie für Klicks sorgen, die Emotionen hoch kochen lassen und die User bei der Stange halten. Alles im Dienst der Werbeumsätze.

Der Schluss daraus – den auch ich lange vertreten habe – ist einfach: Um soziale Netze weniger toxisch zu machen, müsste man ihre Abhängigkeit von Werbung reduzieren. Und sie beispielsweise auf ein Abo-Angebot umstellen. Das bringt halt nicht so viel Geld wie Werbung, wäre aber im Sinne der Öffentlichkeit.

Habe ich gedacht.
Aufritt: Elon Musk.

Musk kauft Twitter. Musk gibt den testosterongesteuerten Libertären. Musk feuert Entwickler. Musk gibt den Twitter-Account von Donald Trump wieder frei. Jede Menge Emotion. Jede Menge Aufmerksamkeit. Und was passiert? Die großen Marken und Agenturen laufen Twitter in Scharen davon. Weil sie "in einem bestimmten Umfeld" ihre Markenbotschaften nicht platzieren wollen.

Im Moment sieht alles danach aus, als ob die Aussicht auf fette Werbe-Umsätze doch ein wenig zivilisierend wirken könnte – oder zumindest vorläufig den Absturz in die Troll-Hölle ein wenig bremsen könnte. Vielleicht war meine Analyse der Toxizität sozialer Netze doch ein wenig zu stark vereinfacht. Aber der Fehler ist ja höchst lehrreich. Frei nach dem Motto: Jeder ist zu irgendetwas gut, und sei es, um als schlechtes Beispiel zu dienen.

Umgekehrt wird sich nun zeigen, ob ein nichtkommerzielles, auf Open Source beruhendes soziales Netzwerk wie Mastodon automatisch zu zivilisierteren Umgangsformen führt. Ich wäre da extrem skeptisch. Die Geschichte des Usenet zeigt ziemlich deutlich, wie Sprache und Diskussionskultur auch ohne die Brandbeschleuniger-Faktoren moderner sozialer Netzwerke komplett aus dem Ruder laufen können. Aber ich werde gerne eines Besseren belehrt.

(wst)