EU-Gesundheitsdatenraum: Patientendaten-Freigabe für Sekundärnutzung umkämpft

Die Industrie will Silos bei Gesundheitsdaten in der EU aufbrechen. Datenschützer und Ärzte warnen vor Risiken und Nebenwirkungen bei der Sekundärnutzung.

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(Bild: Somkid Thongdee/Shutterstock.com)

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Daten aus dem Gesundheitswesen befinden sich in der EU "momentan in Silos", monierte Angel Martin, Leiter des Digitalbereichs beim US-Pharmakonzern Johnson & Johnson bei einer Online-Konferenz des IT-Dachverbands Digitaleurope. Daher brach er eine Lanze für die Initiative der EU-Kommission für einen European Health Data Space (EHDS) ein. Es lasse sich nur schwer nachvollziehen, was krankheitsmäßig auf Bevölkerungsebene vor sich gehe. Auch im Kampf gegen die Covid-Pandemie hätten viele Forscher nicht ausreichend zusammenarbeiten können.

"Wir brauchen aggregierte, anonyme Daten", warb Martin darum für den geplanten europäischen Gesundheitsdatenraum. Nur so könnten Wissenschaftler und die Industrie Krebs bekämpfen, Krankheiten besser verstehen und Algorithmen für eine personalisierte Behandlung trainieren. Nicht alles in dieser Richtung werde im EHDS passieren, aber dieser sei gut geeignet, um bewährte Praxisbeispiele auszubauen. Der Patient müsse dabei im Mittelpunkt stehen, Datenschutz direkt in die Technik eingebaut werden ("Privacy by Design").

Als "sehr ambitioniert" bezeichnete Viktoriia Shportiuk, die beim Medizintechnikhersteller Siemens Healthineers für die Pflege der Regierungsbeziehungen in der EU zuständig ist, das Vorhaben der Kommission. Im Interesse einer besseren Gesundheitsversorgung und -vorsorge sei dieses aber entscheidend. Als zu breit kritisierte die Lobbyistin die enthaltene Definition der systematischen Sammlung elektronisch gespeicherter Gesundheitsinformationen von Patienten und Bevölkerung: Eingeschlossen sei etwa "jede Software, die Gesundheitsdaten verarbeiten, speichern oder verarbeiten kann". Dies betreffe etwa auch ein Röntgengerät, dessen Ziel es aber nicht sei, einen umfassenden Datenfluss zu ermöglichen.

Mit dem Gesetzespaket sollen EU-Bürger Gesundheitsdaten wie Befunde, Röntgenbilder oder Rezepte in einem europäischen Datenraum speichern können. Vorgesehen ist im Kern eine grenzüberschreitend verwendbare elektronischen Patientenakte (ePA) für alle, also auch für Privatversicherte. Die Kommission will auch die Weiterverwendung von Gesundheitsdaten "für Forschung, Innovation, Gesundheitswesen, Politikgestaltung und Regulierungszwecke" im großen Stil ermöglichen ("Sekundärnutzung").

Nötig sei eine gesetzliche Brücke für diese neuen Zusatzmöglichkeiten, betonte Dmitry Etin, Digitalarchitekt für das Gesundheitswesen bei Oracle. Bisher seien allenfalls Patientendaten im Bereich der primären Nutzung durch Ärzte und Krankenhäuser spezifiziert. Für die Sekundärnutzung gebe es noch keine Standards und vergleichbare technische Vereinbarungen. Bisher habe es auf diesem Feld auch viele rechtliche, datenschutzbezogene und ethische Vorbehalte gegeben. Trotzdem kritisierte Etin, dass bisher etwa Genomdaten außerhalb des EHDS blieben, obwohl sie eine wichtige Forschungskategorie darstellten.

Vorgesehen seien viele neue Auflagen für Mediziner für die primäre Nutzung, andererseits Vereinfachungen für die Sekundärnutzung, verwies Sara Roda, Politikberaterin beim Ständigen Ausschuss der Europäischen Ärzte (CPME), auf Widersprüche in dem Vorschlag. Diesem zufolge könnten Therapeuten als Datenhalter gesehen werden und dann mehrere Anfragen pro Tag für eine Weiterverwendung der Informationen etwa aus Forschung und Industrie bekommen. Damit würde das Patientengeheimnis gefährdet. Zudem wäre vielfach eine Einwilligung der Behandelten nötig, auf deren Seite es bereits eine "gewisse Müdigkeit" angesichts ständig geforderter Opt-ins gebe.

Über eine Freigabe für weitere Zwecke sollten daher "kompetente Behörden" quasi als Treuhänder entscheiden, verlangte Roda. Für die mittlerweile auch hierzulande teils auf Rezept erhältlichen digitalen Gesundheitsanwendungen müsse aber gelten, dass diese nur mit Einwilligung von Patienten und Ärzten verwendet und in eine Therapie integriert werden dürften. Eine größere Interoperabilität zwischen einschlägigen Apps könnte helfen, die Nachfrage zu bündeln.

Finnland habe mit einer Behörde für die Genehmigung von Sozial- und Gesundheitsdaten, der Findata, bereits seit 2019 einen einschlägigen "One-Stop-Shop" für die Sekundärnutzung, erläuterte ein Vertreter des Amts. Auf dieser Basis biete man auch spezielle Dienste für das Gesundheitssystem an. Vorgesehen sei dabei ein Opt-out-Modell. Die Bürger vertrauten darauf, dass ihre Daten sicher verarbeitet würden. Es gebe nur wenige Beschwerden, Betroffenenrechte würden kaum genutzt. In Deutschland soll das Forschungsdatenzentrum Informationen aller gesetzlich Versicherten sammeln und für die Sekundärnutzung verfügbar machen, wogegen aber Klagen laufen.

Im EU-Dossier seien die möglichen Weiterverwendungen zu breit angelegt, warf Veronique Cimina von der EU-Datenschutzbehörde ein. Diese erstelle momentan Richtlinien für die Gesundheitsforschung und die Anonymisierung beziehungsweise Pseudonymisierung der einfließenden Informationen. Klar sei: Wenn persönliche Daten erforderlich seien, gelte die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) mit Prinzipien wie Datenminimierung und Zweckbindung. Sie hoffe, dass der EHDS die Hürde der verschiedenen darauf anwendbaren Rechtsgrundlagen für die Datenverarbeitung überspringe.

Der EU-Datenschutzbeauftragte Wojciech Wiewiórowski und der Europäische Datenschutzausschuss gaben im Juli zu bedenken, das Vorhaben stehe nicht in Einklang mit der DSGVO. Auch der Bundesrat drängte jüngst auf Korrekturen.

Tomislav Sokol, Co-Berichterstatter im Gesundheitsausschuss des EU-Parlaments, sprach sich für die Erhaltung eines angemessenen Datenschutzes aus, die Nutzung von Gesundheitsdaten aber auszuweiten: "Wir müssen wettbewerbsfähig sein mit den USA und China." Die Gesetzgeber dürften daher keine zu hohen digitalen bürokratischen Hindernisse aufbauen und sollten Überregulierung vermeiden. Sokol geht davon aus, dass der Berichtsentwurf im Februar steht, das Parlament im Sommer seine Position absteckt und ein Kompromiss mit dem Ministerrat bis Ende 2023 erzielt werden kann.

(olb)