Fahrt in vollen Zügen genießen? Eher nicht: Laut VR-Studie erscheint sie länger

Forschende haben mit Hilfe von VR gezeigt, dass Gedränge in öffentlichen Verkehrsmitteln die subjektive Zeitwahrnehmung verändert.

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Berlin

VR-Demonstration: Hier im Level mit dem dichtesten Gedränge.

(Bild: Screenshot: Demo-Version / So Yeon Yoon)

Lesezeit: 3 Min.

Ein Forscherteam der Cornell University hat mit Hilfe einer Virtual-Reality-Simulation untersucht, wie sich die subjektive Zeitwahrnehmung in einer vollen U-Bahn relativ zu einem weniger gefüllten Zug verändert. Laut der Studie hatten die Teilnehmenden das subjektive Gefühl, dass die Zeit in einem überfüllten virtuellen Zug um rund zehn Prozent langsamer zu vergehen scheint – ein Faktor, der dazu führen kann, dass Menschen bestimmte Linien zu Stoßzeiten meiden, oder generell auf die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel verzichten.

Bislang versuchen Verkehrsplaner mit Hilfe von so genannten "Stated Preference" Umfragen herauszufinden, welchen Einfluss Faktoren wie eine starke Auslastung, Preise oder Pünktlichkeit auf die Verkehrsmittelwahl haben. Dabei werden den Befragten eine Reihe verschiedener fiktiver Szenarien zur Auswahl gestellt, und sie müssen sich für die für sie bestmögliche Option entscheiden. Durch geschicktes Variieren verschiedener fiktiver Szenarien kann man versuchen, die Einflussfaktoren zu isolieren, die sich am stärksten auswirken. Ein Problem ist allerdings, dass alle Szenarien rein fiktiv sind.

Saeedeh Sadeghi und Kollegen ließen nun Studienteilnehmer an fünf in VR simulierten U-Bahn-Fahrten mit einer zufällig zugewiesenen Dauer von 60, 70 oder 80 Sekunden teilnehmen, mit jeweils unterschiedlichem Grad an Gedränge. Anschließend befragten sie die Teilnehmenden, wie angenehm oder unangenehm die Fahrt war und wie lange die Fahrt ihrer Meinung nach gedauert hatte. Das Ergebnis: Überfüllte Fahrten fühlten sich im Durchschnitt etwa zehn Prozent länger an als die am wenigsten überfüllten Fahrten. Die Verzerrung der Zeit hing mit dem Grad der Freude oder des Unmuts zusammen – unangenehme Fahrten wurden um 20 Prozent länger empfunden als angenehme.

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Wie Menschen das subjektive Vergehen von Zeit wahrnehmen, ist noch immer nicht vollständig verstanden. Das Zeitgeber-Akkumulator-Modell wird von vielen Forschenden jedoch als grobe Heuristik verwendet: Demnach gibt es Zeitgeber, die in regelmäßigen Zeitabständen Impulse aussenden, die von einem Akkumulator-genannten zweiten System gesammelt werden. Je mehr Pulse der Akkumulator gesammelt hat, desto länger wird die verstrichene Zeit empfunden. Zeitgeber und Akkumulator werden aber durch zwei Faktoren beeinflusst: Steigt das körperliche Erregungsniveau, feuert der Zeitgeber schneller – die subjektiv empfundene Zeit vergeht also langsamer. Und der Akkumulator sammelt nur Pulse, wenn die Aufmerksamkeit auf das Vergehen der Zeit gerichtet ist. Eine gezielte Manipulation des Zeitempfindens – etwa in VR – wird zum Beispiel in der Bewusstseinsforschung verwendet, könnte aber auch bei der Behandlung von Patienten mit Depressionen helfen.

2007 entwarf der Neurobiologe David Eagleman ein spektakuläres Experiment, um das Zeitgeber-Modell zu testen: Gemeinsam mit seinem Team entwickelte er eine Digitaluhr, deren Display so schnell flackerte, dass es unter normalen Bedingungen nicht zu lesen war. Dann überredete er Freiwillige, aus 30 Metern Höhe in ein Netz zu springen, während sie auf ihre flackernden Uhren starrten. Wenn sich die innere Uhr bei starker Erregung tatsächlich beschleunigt, dann sollten die Freiwilligen sehen, wie sich die Unschärfe im freien Fall in lesbare Zahlen auflöst. Das konnten sie nicht – endgültig widerlegt ist das Modell damit aber nicht.

(wst)