Crashtest-Dummys: "Die Durchschnittsfrau wurde nie zu einem physischen Modell"

Die Forscherin Astrid Linder hat den ersten Dummy-Prototyp mit weiblicher Anatomie entwickelt. Was daran anders ist, erklärt sie im Interview.

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Die Hybrid III Crashtest-Dummy-Familie basiert auf einer Studie von 1983.

(Bild: Gemeinfrei)

Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Veronika Szentpetery-Kessler

Unglaublich, aber wahr: Es gibt bisher keine weiblichen Crashtest-Dummys. Für Frauen rechnet man einfach Größe und Gewicht der männlichen Modelle herunter. Diese Ergebnisse bilden aber nur fünf Prozent der weiblichen Bevölkerung ab. Die schwedische Forscherin Astrid Linder will das ändern und hat den ersten Dummy-Prototyp mit weiblicher Anatomie entwickelt. Mit ihren 162 Zentimetern und 62 Kilogramm repräsentiert EVA eine echte Durchschnittsfrau. Wann sie zum Einsatz kommt, ist unklar.

Frau Linder, wie wurde die Sicherheit weiblicher Autoinsassen bisher getestet?

Astrid Linder ist Professorin für Verkehrssicherheit am Schwedischen Nationalen Institut für Straßen- und Verkehrsforschung und Lehrbeauftragte der Fahrzeugsicherheitsgruppe an der Chalmers University in Schweden.

(Bild: Fotograf Satu/VTI)

1983 beschrieb eine Studie der NHTSA (National Highway Traffic Safety Administration in den USA) eine Dummy-Familie namens Hybrid III für Frontalaufpralle bei hoher Geschwindigkeit. Sie sollte aus einer kleinen und einer durchschnittlich großen Frau sowie einem durchschnittlich großen und einem großen Mann bestehen. Dafür wurden in der Studie Daten zu Haltung, Position, Form und Größe von Fahrzeuginsassen erfasst. Die Durchschnittsfrau wurde jedoch nie zu einem physischen Modell. Und die kleine Frau wurde auch nur ein auf das Alter von 12 bis 13 Jahren heruntergerechneter Mann. Das ist also nicht repräsentativ für die weibliche Bevölkerung. Für die Sicherheitsprüfungen steht im globalen Test-Regelwerk der UNECE (UNO-Wirtschaftskommission für Europa) und in jenem der USA nur, dass für den Fahrer ein Modell eines durchschnittlichen Mannes verwendet werden soll. Die weibliche Bevölkerung wird nicht erwähnt.

Sind die Unterschiede denn tatsächlich so gravierend?

Es gibt offensichtliche Unterschiede wie die Form von Rumpf, Hüften und Brust. Frauen haben ein breiteres Becken als Männer und einen anderen Körperschwerpunkt. Sie haben auch eine unterschiedliche Muskelzahl und -stärke.

Wie kamen Sie dazu, EVA zu entwickeln?

Als ich in den späten 90er-Jahren an der Chalmers University in Schweden promovierte, entwickelten wir einen neuen Durchschnittsmann-Dummy, um den Schutz vor Weichteilverletzungen im Nackenbereich bei einem leichten Heckaufprall zu testen. Dieser BioRID (Biofidelic Rear Impact Dummy) wird von Euro NCAP, einem Zusammenschluss von europäischen Verkehrsministerien, Automobilclubs und Versicherungsgesellschaften, verwendet. Seine Wirbelsäule und sein Hals können sich vor- und zurückbewegen. Ich habe allerdings bei einer Literaturrecherche zu den Verletzungsstatistiken festgestellt, dass Frauen nach einem leichten Aufprall ein höheres Risiko für ein Schleudertrauma oder Weichteilverletzungen am Hals haben als Männer. Darum haben wir als nächsten Schritt Prototypen einer durchschnittlich großen Frau und auch eines durchschnittlich großen Mannes gebaut.

Was muss bei einem weiblichen Crashtest-Dummy in diesem Fall anders sein?

Wir haben die Modelle entsprechend gebaut: Die Steifigkeit für den Frauen-Dummy-Nacken liegt bei etwa 70 Prozent des männlichen. Das berücksichtigt, dass es bei geringerer Steifigkeit zu einer anderen Interaktion mit dem Sitz und der Kopfstütze kommen kann.

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Was ist sonst noch neu bei EVA?

Wir haben EVA und ihrem männlichen Pendant eine Lenden- und Brustwirbelsäule gegeben, die sich auch ein wenig drehen kann. Bei einem Heckaufprall mit 100-prozentiger Überlappung bewegt sich der Insasse hauptsächlich vorwärts und rückwärts. Will man aber einen Dummy auch für Frontalaufpralle verwenden und die Interaktion mit dem Sicherheitsgurt untersuchen, dann braucht man eine Wirbelsäule, die sich auch um die vertikale Achse drehen kann.

Wie geht es jetzt weiter?

Es ist noch viel Arbeit, aus den Prototypen zertifizierte Modelle zu machen. Dann müssen wir zeigen, wie gut die Dummys die gesamte Bevölkerung repräsentieren. Nun steht der Rechtsrahmen der UNECE, der in den EU-27- und einigen anderen Ländern gilt, unter dem Dach der Vereinten Nationen (UNO). Die Länder können also den Bedarf inklusiver Tests einbringen. Es wird sich aber nichts ändern, nur weil es verfügbar ist. Wir brauchten Anreize.

(jle)