Bahnfahren: "Beeindruckend, wie viel Deutschland mit wenig Investitionen macht"

Als Mobilitäts-Aktivist reist Jon Worth seit zehn Jahren möglichst per Bahn durch Europa. Wo es bei Grenzüberquerungen hakt, erzählt er im Interview.

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Hauptbahnhof Lübeck.

(Bild: heise online / anw)

Lesezeit: 11 Min.
Inhaltsverzeichnis

Der gebürtige Waliser Jon Worth ist Blogger und politischer Aktivist. Seit zehn Jahren macht er seine Geschäftsreisen möglichst per Bahn – mit vielen frustrierenden Erlebnissen. Seit 2021 untersucht er nun systematisch durch eigene Anschauung, wo es im europäischen Bahnsystem hakt und wie es sich verbessern ließe – im Rahmen des Crowd-finanzierten Projekts #CrossBorderRail. Worth ist Mitglied der Grünen und wohnt in Berlin. Mit auf seinen Reisen ist immer ein rotes Birdy-Faltrad, das fast baugleich ist mit dem Birdy des Interviewers. Deshalb stellt sich gleich ein Du ein.

Blogger und Aktivist Jon Worth überquerte in Europa zahlreiche Grenzen per Bahn.

(Bild: Jon Worth)

Jon, über wie viele Grenzen bist Du bisher gefahren? Führst Du da eine Statistik?

Allein im vorigen Sommer habe ich 95 Mal eine Binnengrenze der EU mit der Bahn überquert, manchmal waren es zehn an einem Tag. Dazu kamen noch ein paar EU-Außengrenzen. Inzwischen habe ich alle deutsch-französischen Bahnlinien abgedeckt, und fast alle deutsch-tschechischen und deutsch-polnischen. Insgesamt bin ich rund 150 der 200 aktiven internationalen Bahnlinien in der EU abgefahren.

Warum machst Du das?

Es ist ja klar, dass wir alle mehr mit der Bahn fahren müssen und weniger fliegen, wegen des Klimawandels. Die Frage ist: Wie tun wir das? Ich versuche mit meinen Projekten zu zeigen, wo man mit ziemlich wenig Geld und ziemlich wenig Aufwand viel verbessern kann.

Wo läuft es schon gut?

Zum Beispiel zwischen Kopenhagen und Malmö. Da fährt alle 20 Minuten ein Zug. Die Leute haben das in ihren Alltag integriert. Viele wohnen auf der schwedischen Seite und arbeiten auf der dänischen. Ich habe sogar jemanden getroffen, der zum Zahnarzt nach Schweden gefahren ist. Es gibt wenige vergleichbare Regionen, etwa der Großraum Basel oder Genf. Oder zwischen Enschede in die Niederlande und Gronau in Deutschland. Auch dort gibt es ganz viele Grenz-Pendler. Der Takt ist wie bei einer regulären Regionalbahn, der Zug verkehrt bis sehr spät abends.

Und wo läuft es nicht so gut?

In manchen Orten ist es irre schwierig, irgendetwas zu verbessern, weil beispielsweise eine Brücke fehlt, oder dort zu wenig Leute wohnen, die eine Verbindung nutzen könnten. Aber es gibt auch eine Reihe von Orten, wo wir zwar eine Strecke haben, aber kaum etwas verkehrt. Etwa beim französischen Lauterbourg. Dort fährt ein Zug im Stundentakt nach Wörth am Rhein. Aber von Lauterbourg nach Straßburg gehen nur neun Züge am Tag, das kann man für das alltägliche Pendeln nicht wirklich brauchen. Man versteht gar nicht, wem diese Züge dienen sollen.

Also fehlt es nicht an technischen Voraussetzungen, sondern am Willen.

Genau, etwa an der Fahrplankoordination oder den Echtzeit-Informationen. Oder ob man eine durchgehende Fahrkarte buchen kann. Für den Zug von Saarbrücken nach Straßburg etwa kann man bei der SNCF ein Ticket online kaufen, aber dann muss man zu einem Fahrkartenautomaten gehen, um es auszudrucken. Aber in Saarbrücken gibt es keine Automaten der SNCF. Ich hatte also ein Ticket, konnte es aber nicht kriegen. Solche blöden Situationen tauchen sehr regelmäßig auf.

Gibt es bestimmte Probleme, die typischerweise an bestimmten Ländergrenzen auftauchen?

Wenn es beispielsweise an der deutsch-holländischen Grenze eine Linie gibt, dann verkehrt da auch etwas. Allerdings gibt es dort auch viele stillgelegte Strecken, die man wiederherstellen könnte, aber besonders auf der niederländische Seite gibt es kein Interesse daran. Zwischen Polen und Brandenburg hingegen reaktiviert man auch alte Strecken. Generell funktioniert es auch zwischen Deutschland und Tschechien, Österreich, der Schweiz und Dänemark gut. Schwieriger ist es mit Frankreich und zum Teil auch mit Belgien. Zwischen Brüssel und Lille verkehren heute beispielsweise weniger TGVs als noch vor einem Jahrzehnt. Und der Siemens-Vectron-Zug verkehrt zuverlässig zwischen Nordschweden und Istanbul, nur in Frankreich ist er nicht zugelassen. Und der Zug von Marseille nach Ventimiglia erreicht den Grenzbahnhof vier Minuten nach der Abfahrt des Anschlusszugs nach Genua. Diese Art von Problemen erkennt man ziemlich schnell, wenn man vor Ort recherchiert.

Wie ließe sich das ändern?

Bevor man von einer Kooperation zwischen den Bahnfirmen spricht, man braucht eine politische Einigung, dass man die Situation vor Ort verbessern will.

Wer wäre dafür zuständig?

Die EU fördert hauptsächlich die Infrastruktur, also die Schienen- und Signalisierungssysteme, teilweise auch die Fahrzeuge für den internationalen Einsatz, aber nicht in den alltäglichen Betrieb. Das bedeutet: Wenn eine Regionalbahn Unterstützung für den Betrieb braucht, muss sie die von Regionen auf beiden Seiten der Grenze bekommen. Zwischen Lettland und Litauen gibt es beispielsweise Streit über einen nur 20 Kilometer langen Streckenabschnitt. Dabei geht es da nur um ein paar Liter Diesel.

Wenn ich meine Schlussfolgerungen in Brüssel vorstelle, ist die deprimierende Erkenntnis, dass die EU meist nicht einmal genau weiß, wo die Probleme überhaupt liegen. Dann heißt es oft: Hey, wie kann es sein, dass ein Blogger mit einem Crowd-finanzierten Projekt den EU-Institutionen erklären muss, wo etwas funktioniert und wo nicht. Wir brauchen eine Art Crossborder-Rail-Index, damit man weiß, wo es vorangeht und wo rückwärts.