Nur Fliegen ist schneller

Noch nie konnten sich Bootsbauer so austoben wie beim diesjährigen America's Cup, der ältesten Segelregatta der Welt. Frei von Beschränkungen und Budgetsorgen bauten sie Wundermaschinen, die der Luftfahrt näher sind als dem Wassersport.

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Dieser Text ist der Print-Ausgabe 02/2010 von Technologie Review entnommen. Das Heft kann, genauso wie ältere Ausgaben, hier online portokostenfrei bestellt werden.

Noch nie konnten sich Bootsbauer so austoben wie beim diesjährigen America's Cup, der ältesten Segelregatta der Welt. Frei von Beschränkungen und Budgetsorgen bauten sie Wundermaschinen, die der Luftfahrt näher sind als dem Wassersport.

Wenn ein normales Segelboot auf ein Seezeichen zufährt, hat es genau zwei Möglichkeiten: Es kann links oder rechts daran vorbeisegeln. Wenn James Spithill am Ruder der "BOR 90" steht, und wenn ihn der Hafer sticht, wählt er gern eine dritte Option: Er segelt über die Tonne hinweg. Schon bei wenig Wind – ab welcher Windstärke genau, ist ein streng gehütetes Betriebsgeheimnis – hebt die BOR 90 zwei ihrer drei Rümpfe aus dem Wasser, und der Steuermann fliegt in zehn Metern Höhe bei bis zu 40 Knoten (etwa 74 km/h) über die See. Selbst meterhohe Tonnen müssen aus dieser Perspektive ziemlich klein aussehen.

Die BOR 90 (BOR steht für "BMW Oracle Racing", 90 für die Länge von 90 Fuß = 27,4 Meter) ist das Ergebnis des ehrgeizigsten Projekts in der Geschichte des Regattasegelns. 150 Spezialisten aus 20 Nationen haben zwei Jahre lang an einem Boot gebaut, das in mancherlei Hinsicht der Luftfahrt näher ist als dem Wassersport: Das Großsegel wurde durch einen Flügel ersetzt, der größer ist als die Schwinge eines Airbus A380; der Rumpf besteht aus edelsten Kohlefaser-Geweben für 1200 Dollar das Kilo; und wie bei einem Verkehrsflugzeug verlässt sich der Steuermann der BOR 90 nicht mehr auf sein Feingefühl, sondern auf die Anzeigen von einem Dutzend Messinstrumenten.

Einziges Ziel des immensen Aufwands ist es, die älteste Sporttrophäe der Welt zu gewinnen – den America's Cup. In seiner 159-jährigen Geschichte hat der Cup schon einiges an imposanten Schiffen, erhitzten Reglementdebatten und schillernden Persönlichkeiten gesehen. Der 33. Cup aber, der voraussichtlich Anfang Februar 2010 vor dem spanischen Valencia ausgetragen wird, ist selbst nach Maßstäben der spektakulären Cup-Historie einzigartig. "Dort werden die erstaunlichsten Boote aller Zeiten an den Start gehen", schwärmt BOR-Sprecher Tom Ehman. "Das wird man sicherlich auch in hundert Jahren noch so sehen."

Die vielen Superlative sind – je nach Blickpunkt – Schuld oder Verdienst von zwei segelverrückten Milliardären, deren Bankguthaben nur noch von ihren Egos übertroffen werden: Larry Ellison, Chef der Softwarefirma Oracle, sowie Ernesto Bertarelli, Erbe des Biotech-Unternehmens Serono. Bertarelli hatte 2003 und 2007 mit seinem Schweizer Segelteam "Alinghi" die letzten beiden Male den Cup vor BMW Oracle gewonnen – eine Schmach, die Ellison auswetzen will, koste es, was es wolle. Auf rund 300 Millionen Dollar wird das Budget von BOR geschätzt.

Der Showdown zwischen Bertarelli und Ellison begann mit einer sportlichen Bankrotterklärung: Die beiden Teams brachen ein beispielloses juristisches Scharmützel vom Zaun, das sämtliche anderen Konkurrenten vertrieb. Da sich die Gegner nicht einmal auf eine gemeinsame Spezifikation der Boote einigen konnten, griff eine Minimal-Regel des Cups: Die Yachten dürfen höchstens eine Wasserlinie von 90 Fuß haben. Ansonsten gilt: Anything goes.

Damit war der Startschuss gefallen für eine ebenso beispiellose Materialschlacht. Denn bisher mussten die Konstrukteure ihre gesamte Kreativität darauf verwenden, innerhalb enger Regeln hier und da ein paar Promille Performance mehr aus ihren Booten herauszukitzeln. Nun stand ihnen plötzlich ein gewaltiger Ozean an Optionen offen. "Es gab keine Grenzen", resümiert Christoph Erbelding, Luft- und Raumfahrtingenieur bei BMW und für die Struktur der Takelage zuständig. "Wir konnten tun, was immer wir wollten, um das Boot schneller zu machen."

Willkommen also auf dem Traumschiff für Ingenieure? Ian Burns, Leiter des 30-köpfigen Design-Teams und siebenfacher Cup-Teilnehmer, sieht das nicht ganz so euphorisch. "Diese Freiheit klingt nach Spaß und Spielplatz", sagt Burns. "Doch das ist falsch. Es ist hart." Die Probleme für die Konstrukteure begannen schon damit, dass sie bis vor Kurzem den Austragungsort der Regatta nicht kannten. Burns: "Es ist schwer, ein Boot zu bauen, wenn man nicht weiß, ob man vor Kap Hoorn oder im Persischen Golf segeln wird."

Die Ingenieure entschieden sich für ein Boot mit drei Rümpfen ("Trimaran"), weil ihnen das als vielseitigste Plattform erschien. Verglichen mit dem Autorennsport hatte die erste Version für sie noch das Niveau eines Rallye-Autos, das überall irgendwie zurechtkommt. Schritt für Schritt haben sie daraus nun einen spezialisierten Formel-1-Boliden gebaut. Mehrmals mussten die Bootsbauer dabei große Teile ihres Trimarans umkonstruieren – zum Teil, um neue Erkenntnisse aus den Trainingstörns einfließen zu lassen, zum Teil, um auf Schritte der Konkurrenz zu reagieren, die mit der "Alinghi 5" auf einen Katamaran setzt. Und jede einzelne Veränderung zog jeweils eine ganze Kette weiterer Konsequenzen nach sich. Will man etwa den Mast erhöhen, muss man gleichzeitig auch dessen Durchmesser vergrößern, was wiederum die Aerodynamik verschlechtert. "Oft sagt jemand zu uns: Ändere einfach dieses oder jenes. Aber es gibt kein ,einfach' bei diesem Boot", kommentiert Chef-Designer Burns.

Zum Ausgleich durften sich die Konstrukteure aber auch darüber freuen, dass sie bei der BOR 90 an viel machtvolleren Stellschrauben drehen können als bei herkömmlichen Cup-Yachten. "Bei den Einrumpfbooten waren wir froh, wenn man mit einer Maßnahme ein halbes Prozent Verbesserung erzielen konnte", sagt Burns. Aus dem Trimaran haben die Designer seit dessen Stapellauf hingegen 20 bis 30 Prozent mehr Leis- tung herausgeholt. So wurden etwa die Bugs der drei Rümpfe komplett ausgetauscht, das Deckslayout geändert und – als spektakulärste Maßnahme – statt eines Segels der größte je gebaute Flügel gesetzt.

Eine besondere Herausforderung war dabei der Leichtbau. "Das Prinzip bei Mehrrümpfern ist ganz einfach", erklärt Burns. "Das leichteste Boot gewinnt." Doch wie genau lässt sich der Grenzbereich zwischen möglichst niedrigem Gewicht und der nötigen Haltbarkeit ausloten? Das ist die Domäne von BMW-Ingenieur Thomas Hahn. "Wenn ich die Rumpfschale nur einen Millimeter zu stark auslege, habe ich schon 200 Kilo Gewichtseinsparung verschenkt", umreißt er seine Aufgabe. Sein wichtigstes Werkzeug ist die sogenannte Topologie-Optimierung: Eine Software simuliert, welche Spannungen etwa am Übergang der Querstreben zu den Seitenrümpfen auftreten.

Nun kann am Computer so lange an der Form der Bauteile gefeilt werden, bis sich die Belastungen gleichmäßig verteilen und die Spannungsspitzen verschwinden – möglichst ohne die Materialstärke erhöhen zu müssen. Die Daten, mit denen die Software gefüttert wird, stammen vom Boot selbst. An allen tragenden Teilen wurden Sensoren einlaminiert, um in Echtzeit die Belastung zu ermitteln. Über 26000 Messpunkte an Bord der BOR 90 übermitteln ihre Daten im Sekundentakt an ein Boot, mit dem ein Kontrollteam in Funkreichweite dem Segler hinterherfährt. So wissen die Konstrukteure jederzeit über das Befinden der Komponenten Bescheid.

Ergänzt werden diese Daten von Belastungstests. Dazu muss mitunter schweres Gerät aufgefahren werden. Um einen etwa unterarmstarken Kohlefaserbalken an seine Grenzen zu bringen, wird er in Schäkel von der Größe einer Klobrille eingespannt und mit mehr als zehn Tonnen unter Zug gesetzt. Entstehen dabei Risse, wo laut Simulation keine entstehen sollten, müssen die Ingenieure noch einmal ihre Hausaufgaben machen und die Software so lange verfeinern, bis Theorie und Praxis wieder deckungsgleich sind.

Die Belastungsdaten aus Rumpf und Takelage dienen nicht nur den Designern. Sie verraten auch den Seglern in Echtzeit, wie weit sie es treiben dürfen. An Bord der BOR 90 verarbeitet ein Rechner die Messwerte der verschiedenen Sensoren und verdichtet sie zu einem Dutzend siegentscheidenden Kennwerten. Diese werden dann per Funk an die PDAs gesendet, die alle Crewmitglieder am Unterarm tragen. Auf den Displays der Mini-Rechner zeigt dann ein Balken, ob der Trimaran im grünen, gelben oder roten Bereich segelt.

Trotz dieses ganzen Überwachungsaufwandes kam es im letzten Herbst beim Training vor San Diego zur Beinahe-Katastrophe: Der zehn Millionen Dollar teure Mast brach. Verletzt wurde – wie durch ein Wunder – niemand. Doch zeigt der Crash nicht, wie wenig Verlass im Ernstfall auf die hochgezüchtete Technik ist? Christoph Erbelding sieht das nicht so. "Von der Technik her ist der Fall vollständig verstanden", versichert der BMW-Ingenieur. "Wir hatten an diesem Tag durchaus vor, an die Grenzen zu gehen." Beim Versuch, sich aus einer bestimmten Belastungssituation wieder herauszumanövrieren, seien dann aber die falschen Maßnahmen ergriffen worden – eine Verkettung unglücklicher Umstände eben.

Im Rückblick markiert der Mastbruch eine wichtige Zäsur in dem Projekt. Bis dahin wurden nämlich zwei Takelungen parallel entwickelt: ein konventionelles Segel und ein feststehen-der Flügel. Nach dem Schiffbruch entschied sich das BMW-Oracle-Team, nun alles auf ein Karte zu setzen: Die gesamte Kraft wurde von da an nur noch in den spektakulären "Wing" gesteckt. "Dieser Flügel ist die größte Veränderung an einem Boot, die ich je miterlebt habe", sagt Russell Coutts, dreifacher Cup-Sieger und Chef von BMW Oracle Racing.

Die Idee, statt Segeltuch eine starre, aufrecht stehende Tragfläche zum Antrieb zu nutzen, ist nicht neu. Bereits 1988 gewann der Skipper Dennis Connor mit einem Flügel-Katamaran den America's Cup. Auch bei kleineren Regattabooten wie den C-Klassen-Katamaranen gehören Tragflächen seit Längerem zur Standardausstattung. Aber noch nie wurde ein Flügel von so gewaltigen Dimensionen auf einen Rumpf gestellt: Der Mast ist 57 Meter hoch und damit gut 13 Meter länger als eine Tragfläche des weltgrößten Passagierflugzeugs, dem Airbus A380. Die Flügelfläche beträgt 625 Quadratmeter – mehr als doppelt so viel wie ein Tennisplatz. Der Wing ist so ähnlich aufgebaut wie die Tragfläche eines stoffbespannten Segelflugzeugs. Die Form geben tropfenförmige Rippen vor. Sie bestehen aus einer Sandwich-Konstruktion mit einem Kern aus harzgetränkten

Papierwaben und einer Beplankung aus kohlefaserverstärktem Kunststoff. "Die Konstruktion ist so filigran, dass wir schon Angst hatten, sie überhaupt durch die Werkstatt zu tragen", erklärt Wing-Konstrukteur Christoph Erbelding. Darüber spannt sich eine Haut aus Dacron-Polyester, die mit Wärme und einem speziellen Lack aufgeschrumpft wird, damit sie straff und faltenfrei sitzt. Der gesamte Flügel kann sich bis zu einem gewissen Winkel frei um den Mast drehen, um vom Wind richtig angeströmt zu werden. Mitten im Flügel ist ein vertikales Scharnier angebracht, mit dem das hintere Segment angewinkelt werden kann – so wie das Seitenruder bei einem Flugzeug. Trotz dieser aufwendigen Mechanik soll der Flügel mit 3,5 Tonnen etwa genauso schwer sein wie der herkömmliche Mast mit Segel.

"Und warum nehmen wir überhaupt einen Flügel?", fragt Wing-Designer Joseph Ozanne und gibt sich gleich selbst die Antwort: "Weil er schneller ist." Im Prinzip verwandeln Segel und Flügel den Wind zwar auf die gleiche Weise in Vortrieb – nämlich indem sie durch ihre Wölbung wie eine Flugzeugtragfläche Auftrieb beziehungsweise Vortrieb erzeugen. Ein Segel lässt sich allerdings nur schwer in die aerodynamisch optimale Form bringen, weil es nur an drei Ecken straff gezogen werden kann. Um es etwa möglichst flach zu trimmen, sind gewaltige Kräfte nötig, und selbst dann ist es in der Mitte oft bauchiger als gewünscht. Ein starrer Flügel hingegen behält immer seine optimale Form.

Zudem kann der Flügel noch weitaus besser auf den jeweiligen Wind eingestellt werden als ein Segel. "Mit einem Flügel kann man erstmals die Erzeugung von Vortrieb und Krängung trennen", erläutert Christoph Erbelding. Der hintere Teil des Wings besteht nämlich aus acht einzeln verstellbaren Segmenten. Dadurch lässt sich unter anderem bestimmen, wo welche Kraft auf den Mast einwirken soll. Werden etwa die Segmente an der Mastspitze auf "bauchig" getrimmt, bringen sie das Boot durch den langen Hebelarm in eine starke Schräglage. Werden nur die unteren Segmente bauchig eingestellt, ist die seitliche Last auf das Boot geringer – und damit auch dessen Krängung. Das bietet gerade für Mehrrumpfboote einen entscheidenden Vorteil: Sie segeln nämlich dann am schnellsten, wenn nur noch ein Rumpf im Wasser ist. Indem sie geschickt mit den acht Klappen spielen, können die Segler weitgehend unabhängig vom Wind immer genau so viel Schräglage erzeugen, dass zwei der drei Rümpfe aus dem Wasser kommen.

Doch um richtig mit der neuen Klaviatur der Trimmmöglichkeiten umgehen zu können, müssen die Segler komplett umlernen. Üblicherweise reicht erfahrenen Skippern ein Blick ins Segel, um zu sehen, ob es richtig steht. Der Flügel aber sieht immer gleich aus. Als Reminiszenz an das traditionelle Segeln sind zwar auch hier noch schmale rote Bändsel aufgenäht, die durch ihr Flattern die Windströmung anzeigen. "Doch um auf herkömmliche Weise die optimale Segelstellung zu finden, gibt es einfach zu viele Variablen", räumt Wing-Konstrukteur Christoph Erbelding ein. Statt auf ihr Augenmaß muss sich die BMW-Oracle-Crew nun auf ihre Instrumente verlassen. "Ein Flugzeugpilot schaut schließlich auch nicht dauernd nach draußen auf die Tragfläche", kommentiert Chef-Designer Burns.

Zudem haben sich durch den Flügel auch die Rollen innerhalb des Teams verändert. Früher sagten die Segler den Designern, wie sie das Boot verbessern können. "Heute führen die Designer die Segelcrew und sagen ihr, was möglich ist", so Burns. Dafür spielen die Ingenieure in einer Computersimulation genau durch, welche Flügelstellung bei einem bestimmten Kurs und Wind das beste Ergebnis bringt. Aus den Werten der Belastungssensoren sowie der Luftdrucksensoren am Flügel werden sogenannte Kennfelder abgeleitet, die den Seglern auf ihren PDAs den optimalen Trimm anzeigen.

In der Praxis äußerten sich die Segler nach den ersten Trainingstörns sehr zufrieden über den Wing – zumindest, solange das Boot in Fahrt war. Denn sobald das Boot nicht in Bewegung ist, muss mit dem Flügel ein enormer Aufwand getrieben werden, da er weder verkleinert noch nach Feierabend einfach in einen Segelsack gesteckt werden kann. Deshalb wird der Trimaran, solange Mast und Flügel stehen, im Hafen nicht an einem Steg festgemacht, sondern treibt frei um eine Ankerboje herum. Währenddessen übernachtet immer eine Crew an Bord; ein weiteres Team ist im Hafen in ständiger Alarmbereitschaft.

Noch eine weitere Neuerung wird bei diesem America's Cup das Segeln verändern: Das Schweizer Alinghi-Team hat motorbetriebene Winschen in seinen Katamaran "Alinghi 5" eingebaut. BOR klagte erfolglos dagegen und musste nachziehen. Für die Designer bedeutete dies: Abermals mussten sie große Teile ihrer Yacht umkonstruieren. Bisher wurden die Winschen nämlich von muskelbepackten Männern – sogenannten Grindern – über Handkurbeln angetrieben. Der hintere Teil des Rumpfes wurde um die Arbeitsplätze der Grinder herumgebaut: Das Deck war tiefergelegt, um den acht Grindern Platz zu verschaffen, und alle Winschen wurden in der Nähe der Handkurbeln angebracht, damit sie von einer einfachen Karbonwelle ohne große Umlenkmechanik angetrieben werden konnten. Mit dem Wegfall der Grinder konnten die Konstrukteure nun das Deck verkleinern und die Winschen freier platzieren.

Doch welcher Motor eignet sich am besten für die Regatta-Yacht – wie viel Leistung und Drehmoment braucht man, und wo soll das Aggregat untergebracht werden? Aus dem Segelsport gab es keinerlei Vorbilder oder Erfahrungswerte – die Konstrukteure mussten sich abermals auf ein unerforschtes Meer der Möglichkeiten begeben. Die traditionelle Bauweise von maritimen Antrieben, bei der ein Motor von durchströmendem Meerwasser gekühlt wird, schied von vornherein aus – sobald sich der Hauptrumpf in die Luft erhebt, wäre der Motor vom Kühlwassernachschub abgeschnitten. Um erst einmal die richtige Dimensionierung der Maschine festzulegen, maßen die Ingenieure die Leistung der Grinder bei verschiedenen Segelmanövern. Das Ergebnis: Für drei bis vier Sekunden können Grinder eine Leistung von rund einem PS aufbringen. Demnach hätte ein Motor mit acht PS gereicht.

Da die Grinder aber auch ein enormes Drehmoment aufbringen, war es damit nicht getan. Nach ihren Berechnungen entschieden sich die Konstrukteure schließlich für einen 110-PS-Turbodiesel von BMW, der seine Wärme wie bei einem Auto durch einen Luft-Wasser-Kühler abgibt. Er arbeitet in einem wärmeisolierten Verschlag im Hauptrumpf und überträgt seine Leistung über zwei Hydraulikpumpen an die Winschen. Einschließlich Tank ist der Motor rund 400 Kilo leichter als die acht Grinder und verkürzt die Zeit von Segelmanövern von 20 auf 6 Sekunden. Zudem können Manöver, die bisher nacheinander durchgeführt werden mussten, nun auf Knopfdruck gleichzeitig gestartet werden, wodurch das Segeln abermals dynamischer wird.

Wo aber sind die Grenzen dieses "Höher – schneller – weiter"? Für BOR-Teamchef Russell Coutts sind sie schon längst überschritten. Er macht keinen Hehl daraus, dass er die Motorisierung des Cup-Segelns für einen Irrweg hält: "Das ist so, als ob Fußballer mit einem Motorroller über den Platz fahren. Klar wird das Spiel dann schneller. Aber es ist nicht mehr die gleiche Sportart." Ihm jedenfalls tue es Leid, die Grinder – unter ihnen viele hochdekorierte Spitzensportler – von Bord schicken zu müssen. Abzusehen ist heute schon, dass sich eine solch gigantische Materialschlacht wohl nicht so bald wiederholen wird. Selbst den beteiligten Teams ist anzumerken, dass sie des juristischen und technischen Taktierens müde sind und die Sache endlich hinter sich bringen wollen. Andere Spitzensegler fordern ohnehin eine Rückbesinnung auf alte Tugenden: einfachere, einheit- lichere und erschwinglichere Boote, auf denen der bessere Segler gewinnen möge.

Was Freunde des Segelsports freuen dürfte, werden Technik-Gourmets bedauern – schließlich haben Ingenieure selten so viel Freiheit, die Grenzen von Mensch und Material derart kompromisslos auszuloten. Aus den dabei gewonnenen Erfahrungen können auch andere Bereiche profitieren: "Wir haben die Methodik für den Leichtbau massiv verfeinert und viele neue Erkenntnisse über die Materialien gewonnen", sagt BMW-Ingenieur Erbelding. Auch beim Faktor Zeit konnten die Konstrukteure dazulernen: Prototypen gab es bei der BOR 90 keine, alle Tests wurden in Echtzeit am fertigen Objekt durchgeführt. Das kann den Ingenieuren später, wenn sie vom Sport zur Industrie zurückkehren, helfen, Neuentwicklungen schneller auf den Markt zu bringen. Denn nicht nur im Sport geht es schließlich darum, Erster zu sein. (bsc)