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Was war. Was wird.

Wer erinnert sich eigentlich noch an den Verein zur Förderung der Telekommunikation, fragt sich Hal Faber. Ja, man kann auch Gesetze hacken, bewies ein Pionier, ohne den die fast schon urzeitlichen Nerds in Deutschland alle mit mehr als einem Bein im Knast geständen wären.

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Lesezeit: 10 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

Was war.

*** Leise hat er sich davongemacht, der April. Dafür lärmt der Mai umso lauter: Horden mit Bollerwagen ziehen durch die norddeutsche Tiefebene, Betrunkene aller Altersgruppen kotzen jede Blume am Straßenrand zu. Das ehrwürdige Fruchtbarkeits-Fest zu Ehren der Göttin Floralia, oder germanisch-keltisch zu Ehren von Bealtuinn oder christlich zu Ehren von Walburga oder auch zu Ehren der Arbeiterklasse ist nur noch eine große Sauferei unter freien Himmeln. Überall finden sooo deutsche Rituale statt, dass Grausen aufkommt. Gespannt schauen die Medien nach Berlin oder Hamburg, das kollektive Torkeln in der Ebene wird ignoriert. Da hilft nur allgemeines Zurückignorieren mit Blick ins kalte München, wo alte Rechner eine kleine Halle heizen, unter ihnen der c't86.

*** "(Online-)kommunikation: Endlich wieder Reden" ist das Thema des VCFE wie dieser kleinen Wochenschau. Denn der Rückblick gilt nicht der vergangenen Woche, sondern dem Leben eines großen deutschen Online-Pioniers. Leise ist Günther Leue am 1. April abgetreten, der IT-Pionier und Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs. Alle Vertreter der Generation Mailbox verneigen sich vor ihm, denn ohne seine geniale Konstruktion des Vereins zur Förderung der Telekommunikation (VFTK) im Jahre 1984 wäre unser Treiben illegal gewesen. Um es im Denglisch des derzeit amtierenden Innenministers auszudrücken, war der gesamte Telekommunikations-Bereich eine "No-go-Area" für technisch interessierte Staatsbürger. Schon der Anschluss eines nicht vom Gilb zugelassenen Telefons an das staatliche Telefonnetz war ein Anschlag auf die öffentliche Ordnung und Sicherheit Deutschlands, ebenso der Betrieb nicht zugelassener "Telemodems".

*** Mit dem VFTK spannte Günther Leue einen wichtigen Schutzschirm auf, weil er einen juristischen Kniff ausspielte. Die Mitglieder des VFTK durften zur Erfüllung des Vereinszwecks Datennetze betreiben und benutzen, obwohl dies nach dem Postmonopol eigentlich verboten war: Das Recht auf Vereinigungsfreiheit war höher angesiedelt als das Fernmelderecht. Die Mailboxszene, der CCC und Leues eigenes System, die 1982 gestartete IMCA-Box in Haunetal: Sie alle wurden von einem Jura-Hack beschützt. So konnte sich aus der Mailbox von Leue das GeoNet-System entwickeln, in dem fast alle CCC-Mitgieder einen Account besaßen, da Leue ihnen einen besonderen "Haustarif" gewährte und erklärte: "Wir sind der Meinung, dass E-Mail nicht nur dem Kommerz dienen soll, sondern in gleicher Weise auch dem Verbund von Menschen." Die Mitglieder des CCC dankten ihm auf ihre Weise. Sie produzierten das erste elektronische Magazin Chalisti, das für viele GeoNet-Nutzer zur Pflichtlektüre wurde: "Die gesamte Menschheit bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit des globalen Dorfes zu vollenden."

*** Günther Leue war auf seine höchst eigene Weise ein "68er": Er lebte in den USA, als 1968 die Debatte um das Carterfone kulminierte und die Federal Communications Commission entschied, dass das Carterfone (und andere Systeme wie Akustikkoppler und Modem-Schaltungen) an das Telefonnetz von AT&T angeschlossen werden durfte, sofern sie keinen Schaden am Netz verursachten. Leue, der viele Gespräche mit dem ARPANET-Pionier Ed Roberts geführt hatte, begriff als einer der Ersten, dass eine völlig neue Kommunikationsindustrie entsteht, auf die Monopolisten wie AT&T (oder die Deutsche Bundespost) keinen Einfluss mehr hatten.

*** Dem Kondolenzbrief meines Providers ist eigentlich nichts hinzuzufügen: Ohne das GeoNet und dem Ansatz, dass Netze mehr sind, als Daten für Banken oder Behörden durch die Gegend zu schaufeln, kann das Heute kaum erklärt werden. Ich bin ein Fan von Ursache und Wirkung. Ich bin sicher, dass eine Erfindung wie das WWW von Berners-Lee irgendwo seine Vorväter hatte in Form von Gedanken und Visionen, die zu E-Mail und Informationsverbreitung erst führen konnten. Ich bin sicher, ein Tim Berners-Lee kennt den Namen Günther Leue nicht, aber irgendwo in der gedanklichen Evolution zwischen der Ursuppe der Byteschaufelei und den neuen Multimedia-Welten auf dem iPad, da ist er eines der vergessenen 'Missing Links'".

*** Nichts illustriert den Missing Link besser als die Ignoranz der deutschen Wikipedia, deren Relevanz-Krähen keinen GeoNet-Eintrag zulassen und erst recht keinen Günther Leue kennen, nicht mal als den Mann, der in seiner Zeit als Diebold-Berater für die Einführung der Barcodes in Deutschland kämpfte.

*** Günther Leue begann seine lange Karriere in der IT 1953 bei Remington Rand Univac. Er wurde Verkaufsdirektor für den Bezirk Nordrhein-Westfalen und arbeitete so erfolgreich, dass er als erster Europäer im Jahre 1966 Product Line Manager in der amerikanischen Zentrale von Univac wurde. Bei einem Lehrgang an der New Yorker Graduate School of Business lernte Leue den Automationsspezialisten John Diebold kennen und wurde Geschäftsführer der Diebold Deutschland GmbH. Leue beschäftigte sich mit dem, was heute IT-Assesment genannt wird. Er arbeitete außerdem in dem von Henry Sherwood geleiteten europäischen Diebold-Forschungsprogramm. 1974 ging er für Diebold wieder in die USA, wo er das Team leitete, dass IBM im großen Antitrust-Prozess IT-technisch beriet. 1976 wagte Günther Leue den Sprung in die Selbstständigkeit und gründete die Firma "Leue Management Consultants", die Seminare zur IT-Organisation anbot. Er wurde Mitglied im einflussreichen Informationskreis Organisation und Datenverarbeitung und beschäftigte sich mit dem "Information Retrieval" aus großen Datenbanken. Er engagierte sich in einem US-amerikanischen Diskussionskreis, der die Rolle von "Informationsarbeitern" unter den Bedingungen der zunehmenden Computerisierung untersuchte. Dort dachte man über das nach, was uns heute selbstverständlich erscheint: die Bündelung von Sprache, Text und Bild in einem einzigen Informationskanal.

*** Zusammen mit seinem Sohn Christian begann Günther Leue Ende der siebziger Jahre mit der Entwicklung eines einfach zu bedienenden Kommunikationssystems. Unter dem Namen IMCA-Mailbox ging das System online. Es war eine der wenigen Mailboxen, die über Datex-P erreicht werden konnten. Auf Basis dieser ersten Mailbox mit Z80-Prozessor und dem Betriebssystem Oasis entstand in einem zweiten Anlauf mit DEC-Hardware und OpenVMS als Grundlage das GeoNet-System, das Leue sehr erfolgreich vermarkten konnte. Geonet-Knoten gab es in Deutschland und in Österreich (von Radio Austria betrieben), in England, aber auch in den USA. Das größte GeoNet-System überhaupt wurde 1990 in Polen installiert, 1991 bekam Sibirien seinen eigenen Mailboxverbund mit GeoNet-Technik. GeoNet war nicht nur Hardware, sondern in erster Linie eine Software, die auf ihre Weise Standards setzte. Die GeoNet-Syntax färbte auf viele andere Mailbox-Systeme ab, etwa bei den Zerberus-Mailboxen. In seinen leider nur rudimentären Memoiren schrieb Günther Leue: "Der Befehlsvorrat, den das System anbot, war so ausgewählt, dass alle Operationen mit schlichten, der Umgangssprache entnommenen Worten aufrufbar waren. Es wurde dadurch eine extreme Benutzerfreundlichkeit erreicht, die sich insbesondere in der einfachen klartextlichen Dialogführung in der jeweiligen Muttersprache widerspiegelte. Aber auch im 'Vergeben' bei den häufigsten Syntax-Eingabefehlern, in automatischer Korrektur (wo immer möglich) und dem Anbieten von Hilfen und Alternativen, wo das System nicht von sich aus korrigieren kann. Das Ganze war ausgelegt auf 'Nicht-Computerfachleute', wie zum Beispiel Sekretärinnen. Selbst für Blinde, von denen einige von Anfang im System waren, waren sie schnell lern- und nutzbar."

*** Im Geonet-System war eine Art "Instant messaging" möglich, weil der Befehl "Online" eine Liste der Teilnehmer ausgab, die eingeloggt waren. Mit "Text" konnte den Teilnehmern eine Sofortnachricht geschrieben werden, mit "Dialog" startete ein Chat. War kein Teilnehmer online, funktionierte "Dialog" trotzdem: Hinter dem Befehl verbarg sich eine komplette Implementation von Weizenbaums Eliza.

*** Als einen der wichtigsten Momente in seinem Leben beschrieb Günther Leue ein Treffen von LMC-Mitarbeiten mit dem damaligen Post-Minister Schwarz-Schilling und etlichen Managern der Deutschen Post am 24.7.1985, das durch Graf Nayhauß vermittelt wurde. Bei diesem Treffen der verfeindeten Seiten, von dem es umfangreiche Protokolle beider Seiten gibt, wurde die halblegale Mailbox-Szene regierungsamtlich anerkannt. Der "Sieg" hatte im Schlusskommuniqué des Postministeriums folgenden Wortlaut: "Der Liberalisierungsprozess der Telekommunikation wird auch in Deutschland eingeleitet. Die Bedeutung der technischen Kommunikation beim Übergang in ein Zeitalter, dass mit dem Schlagwort von der 'Informationsgesellschaft' charakterisiert wird, machen dies zwingend." Natürlich war die Anerkennung der Mailbox-Szene im Sinne legaler Techniknutzung nur ein Aspekt. Die widerständigen Kräfte meldeten sich auch im Protokoll zu Worte. Schließlich hatte damals die Bundespost damals gerade noch einmal 500 Millionen DM in ihr BTX-System gesteckt, dass vor den Mailboxen Vorrang haben sollte: "Die existierenden Gesetze müssen beachtet werden, die Reformbedürfnisse in Form von notwendig werdenden Gesetzesänderungen bedürfen einer sorgfältigen Analyse. Die heimische Industrie muss Gelegenheit bekommen, sich auf den verstärkten Wettbewerb vorzubereiten. Die personalpolitischen und technischen Gegebenheiten des Großunternehmens Deutsche Bundespost müssen beachtet werden."

Was wird.

Günther Leue ist 85 Jahre alt geworden. Für uns alle, die immer wieder seine E-Mails mit Anregungen bekamen, bleibt in Erinnerung, wie sehr er sich trotz aller Klinikaufenthalte und Zäsuren mit neuen Ideen beschäftigte. Groß war seine Begeisterung für das Projekt "Better Place". Zuletzt war es das bedingungslose Grundeinkommen, mit dem er sich intensiv auseinandersetzte. Die Texte hierüber befinden sich auf einer Website, die dem Online-Pionier gewidmet ist, der jetzt am Großen Terminal sitzt. (jk)