Über 1000 km in Liegenbleibangst mit dem Nissan Leaf

Der Elektroschock

Der Nissan Leaf ist so gut, wie ein Elektroauto beim Stand der Batterietechnik sein kann, und dieser Bericht soll es zeigen. "Wir fahren damit e-miglia", schlug ich den Heise-Kollegen vor, was sofort freudig angenommen wurde

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  • cgl
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Stuttgart, 21. August 2012 – Der Mensch denkt gerne fälschlich, er könne seine eigenen Reaktionen realistisch vorhersagen. Ja, wenn ich je auf der Straße landen sollte, dann würde ich aber nieee betteln. Er glaubt sogar, er kann sich als weißer, in jeder Hinsicht durchschnittlicher Mann des Mittelstands ("Difficulty level: easy") ausmalen, wie die Welt ihn als Campinos ätzende lesbische schwarze behinderte Frau wohl behandeln würde. Ich habe immer geglaubt, ich kann mir längere Strecken Elektroauto fahren vorstellen, weil ich im Physikunterricht der fünften Klasse stellenweise wach war: Die schweren und teuren Batterien speichern nur eine sehr geringe Energiemenge, die Motoren sind sehr effizient. In Kombination bedeutet das also, dass große Schwankungen im Vorankommen zu erwarten sind, vor allem im Vergleich zum Fahren mit flüssigen Kohlenwasserstoffen. Es gibt keine Reichweite. Laden wird ein Problem sein. Und so weiter. Aber anders als bei den erstgenannten Beispielen kann man sehr einfach eigene Erfahrungen mit einem Elektroauto machen. Ich wählte die Extremerfahrung und meldete den ausgewachsenen Familienkompakten Nissan Leaf bei der Elektrorallye e-miglia an.

Make like a tree

Diese eher abstruse Idee kam mir, als ich zum ersten Mal in einem Leaf fuhr. Ich hatte erwartet, das Fahrzeug zu hassen für seine bizarren Ökobotschaften aus dem Text-to-Speech-Synthesizer, aber ich liebte es auf dieser kurzen Fahrt um den Kölner Dom herum für seine Fülle an Qualitäten. Es ist äußerst komfortabel, weil es wie schwere Oberklasselimousinen hohe Reifenseitenwälle mit hohem Gewicht und moderater Dämpfung kombiniert – und mit weichen Velourssitzen. Es ist sehr leise. Es hat ein gutes Infotainmentsystem, das den Fahrer in seiner ständigen Suche nach Strom unterstützt. Und es hat einen feinst ansprechenden Elektromotor mit 80 kW Nennleistung, einem einzigen Gang und daher nahezu null Wartungsaufwand. Es ist so gut, wie ein Elektroauto beim Stand der Batterietechnik sein kann, und ein Feature sollte das beweisen. "Wir fahren damit e-miglia", schlug ich den Heise-Kollegen vor, was sofort freudig angenommen wurde.

Später erfuhr ich, dass diese Kollegen offenbar dachten, ich mache Witze. Es hätte mir verdächtig vorkommen sollen, dass mein eigentlich atomstromverneinender geplanter Copilot so zustimmend reagierte, als ich ihm sagte, wir wollen mit einem Polonium-220-befüllten RTG den sicheren Sieg in der Stromverbrauchswertung einstreichen. Aber da hatte ich längst alles organisiert. Bis auf den RTG. Das DLR denkt wahrscheinlich immer noch, ich habe ihnen diese Mails als schlechten Scherz geschickt. Statt von Nissan bekam ich einen Leaf von der Elektro- und Solarinstallationsfirma Schletter, statt dem Heise-Kollegen nahm ich die Frau mit, denn ich dachte beweisen zu können, dass selbst Rallye fahren mit dem Leaf easy-peasy Urlaub ist.

Shakedown: erste finstere Ahnungen

Erste Zweifel an dieser Einschätzung kamen bei der Überführung vom Schletter-Parkplatz an den Start der e-miglia in München. In knapp 50 km verbrauchte der Leaf zwei Drittel seiner Akkuladung. Hm. Auf der Rallye waren Einzeletappen mit über 100 km über Pässe geplant. "Nehmt's unbedingt noch das Verlängerungskabel auf die Rallye mit", empfahl ein ernst dreinblickender Schlettermensch, der alle Zweifel zu teilen schien. Dann legte er den Leaf an selbiges, und das Fahrzeug wurde zur Elektroimmobilie – ein ständiger Anblick über die nächsten Tage. Nun stehen ja die meisten Autos mehr, als sie fahren. Sie tun das allerdings nur selten, wenn jemand damit fahren will. Meine Sympathie sank bereits. Meinen Unmut kurierte ich durch Lästern: Der Mitsubishi Mief da drüben, was für eine willkürlich schreckliche Scheißkarre! Noch hässlicher als der Leaf, und der schaut schon aus wie ein unsachgemäß geschlachteter Kugelfisch. Und hier: Zweisitzer-Fahrräder mit Akku, soso. Igitt. Und dieser andere Leaf, dem werden seine Breitreifen noch zum Verhängnis werden, das seh ich doch schon jetzt. Tesla Roadster, pft. Mit solchen Riesenakkus kann ja jeder ankommen. Lieben musste ich jedoch Alessandro del Guglielmos dreimotorigen Prototypen "Lampo 3", ein Elektro-Targa-Sportwagen auf Corvette-Chassis und den einspurigen Zerotracer, die elektrische Variante des raumschiffartigen Schweizer Kabinenmotorrads, in dem ich mal probehalber Platz nahm. Der war sofort mein Underdog-Favorit.

Die erste Etappe, den Prolog zum Start in Rosenheim, probierte ich in Anbetracht der schockierend geringen extrapolierten Reichweite der Erstfahrt extrem langsam fahren aus. Die veranschlagte Etappen-Fahrzeit war so hoch, dass man 60 km/h auf der Autobahn fahren konnte, wenn man wollte. Widerwillig probierte ich 80 aus, die ich für gefährlich auf der Autobahn halte, weil sie LKW zu Überholmanövern zwingen. Nach dem zehnten Wohnmobil, das uns live auf Kamera überholte, konnte ich die Scham nicht länger ertragen und fuhr mit 95 weiter. Zu früh da sein gibt aber mehr Strafminuten als zu spät da sein, hatte der alte Griesgram vorher bei der Fahrerbesprechung erzählt, deshalb hielten wir für eine gute Viertelstunde an: Eis essen, Luftdruck in den Reifen erhöhen. Bei dieser wortwörtlichen Schleicherei brauchten wir keinen Grip, wir brauchten Reichweite aus geringem Rollwiderstand. Nach einer weiteren Pause für eine pünktliche Zieleinfahrt lag der Leaf wieder an seiner Leine. Eine Frau gab uns eine Tüte voll Schokolade, denn sie wusste nicht, dass wir die Klimaanlage nur anschalten können, wenn wir schieben möchten. Der Veranstalter gab uns vier Stoppuhren und fünf Warnwesten, vielleicht für jeden virtuellen Passagier eine. Der Leaf gab uns ... wenig Anlass zur Hoffnung.

Tag 1: "Talisker" rächt sich

In der unchristlich frühen Früh hing eine Liste mit Startzeiten am Tourbus. "Team Solar dies", "Team Solar das", "Team Nachhaltigkeit", "Team Sonnenwind" und "Team Nachname" stand da. Dazwischen: "Team Talisker". Als auf diesen endlosen Fragebögen ein Teamname einzutragen war, hielt ich das für egal und schrieb meinen Hauswhisky rein. Jetzt stand der also jeden Morgen zwischen den Weltverbesserer(nach)namen. Das sieht doch aus, als nehme ich die Sache nicht ernst, und nur weil das stimmt, muss es ja da nicht so prominent stehen. Außerdem fragten immer wieder Männer mit Geschmack, ob wir nicht einen Schluck Talisker dabeihätten, doch selbst den hatten wir in der Hektik vergessen.

Dergestalt mental beschäftigt verfuhr ich mich sofort. Als wir wieder aufs Roadbook einspurten, wollte das auf die lange Autobahn nach Salzburg führen. Ich seufzte: "Das verkrafte ich nicht. Wir können nicht 80 km mit 70 über die Bahn schleichen, von Wohnmobilen überholt und von Spediteuren gehasst werden. Wir fahren jetzt Landstraße." Die war wunderschön, schwang sich über Hügel und an Seen vorbei, und am Ende waren wir nach dem obligatorischen Salzburger Verkehrsinfarkt nur eine halbe Stunde zu spät am Treffpunkt. Eigentlich sind 10 Strafminuten pro zu späte Minute mit maximal 100 Strafminuten vorgesehen, aber wenn "Team Talisker" 30 Minuten später einfährt, um zu proklamieren, wie schön die Landstraße war, dann konnte man auch verstehen, dass die eine oder andere Schläfenader leicht schwoll: Wir kriegten (Regel hin oder her) 300 Strafminuten, und mit diesen fünf Stunden waren wir die Allerletzten. Das nächste Mal schreib ich "Team Heise Autos" rein oder "Team Schletter", das hätt die doch auch gefreut.

Die Mittagspause in Salzburg dauerte ebenfalls fünf Stunden, sodass ich intime Kenntnisse der Salzburger Altstadt erwerben konnte und weiß, wo zwischen den Burgmauern die Heroin-Junkies campieren. Was ich dort nicht fand, war eine Gleichstrom-Druckbetankungsladestation (ChadeMo), die den Leaf in 30 Minuten auf 80 Prozent Ladestand bringt. Der Plan war, schonmal vorzufahren und am Ziel mit einem Weißbier winkend den Rest zu empfangen. Wahrscheinlich war es gut, keine zu finden. Die Zeitstrafe hätte sich vermutlich in Jahren bemessen. Die Mittagspause war allerdings auch eine echte Zeit-Strafe. Die Elektroenthusiasten führten an, wie toll es doch sei, diese entschleunigte Zeit zu haben. Was man da alles sieht! Das wär mit 'nem Diesel nicht passiert! Im Grunde also dieselbe Selbsthypnose wie bei einem Haus ohne Wasseranschluss: Was man da alles riecht!

Der Salzburger Stupor war nach der kleiiinen Ladepause schwer abzuschütteln. Hier möchte ich nochmals auf die Stärken des Leaf hinweisen: Der Energy-Drink-Dosenhalter liegt vor dem Fahrstufenhebel in ergonomisch perfekter Position, die okaye Beschallungsanlage profitiert von der sehr leisen Fortbewegung: fast keine Windgeräusche, wenig Reifengeräusche und der Motor produziert nur ein sehr hochfrequentes Fiepen, das die meisten Käufer aufgrund ihres Alters gar nicht mehr wahrnehmen können. Es ist ein Fahrzeug, in dem man anstrengungslos lange Etappen sitzen könnte, wenn es diese langen Etappen schaffen würde. Wir kauften vor Bruck nochmal im Supermarkt ein, trödelten ein bisschen, um dann pünktlich in Bruck einzufahren. Die Special Stage den Fuß der Glocknerstraße hoch bis zur Mautstation machte mir erst dann Sorgen, als ich sah, wie die Kilometer auf der Anfahrt schon wegschmolzen, nur weil es dort (noch recht sanft) bergauf ging. Der Berg ist der Feind des Akkus. Ich wollte hier auslassen, dass ich mich bei der Zieleinfahrt in die bescheuert versteckte Lichtschranke verfahren habe, aber nachdem ich festgestellt habe, dass sich da viele vertan haben, geb ich das doch zu: verfahren. Mit zurücksetzen. I blame ze Zeitschrankenaufbauer.

Am zweiten Tag der Rallye fuhren wir mit vollem Akku die Großglockner-Hochalpenstraße hoch und lernten dann, wie weit man mit vom Auto behaupteten 20 km Restreichweite noch kommt. Hier lesen.