Ein bisschen scheinheilig

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München, 20. November 2015 – Sie war die Überraschung des Jahres 2013 von BMW. Die R nineT eroberte die Herzen der nostalgisch fühlenden BMW-Fans im Sturm und wurde den Händlern aus den Händen gerissen. Dieses Jahr sicherte sich der Retro-Boxer sogar Platz drei der deutschen Zulassungsstatistik. An diesen Erfolg möchte BMW mit einem noch radikaleren Motorrad anknüpfen, der R nineT Scrambler. Wer hätte der lange als stockkonservativ geltenden Marke noch vor wenigen Jahren soviel mutiges Design zugetraut?

Auf der EICMA sorgte die R nineT Scrambler für Begeisterung. Sie hat Motor, Rahmen und Tank der erfolgreichen R nineT übernommen, doch sie treibt den nostalgischen Look noch weiter. Scrambler waren in den 1960er Jahren die Vorläufer der Enduros, sollten also auch offroadtauglich sein. Heute ärgern sich die BMW-Manager sicher, dass damals die bayerische Marke auf keinen Fall einen Anglizismus wie „Scrambler“ in den Mund nehmen wollte. Ducati hatte 1968 ein hochoffiziell Scrambler getauftes Modell auf den Markt gebracht – und die neue Scrambler ist heute mit Abstand das bestverkaufte Modell aus Bologna.

Mangels eindeutiger Vorbilder aus der Firmenhistorie wird seitens BMW eifrig darauf hingewiesen, dass es 1951 auf der IFMA mal einen hochgelegten Zwei-in-eins-Auspuffanlage für die R 68 als Zubehör gab. Und natürlich hat Schorsch Meier höchstpersönlich mal eine bewegt. Die Rennlegende wird bis heute gerne herangezogen, wenn es um die Sport-Kompetenz von BMW geht.

Retro ohne Vorbild

Der Mangel an Vorbildern wird dem Verkaufserfolg der R nineT Scrambler keinen Abbruch tun, ein bisschen Scheinheiligkeit gehört halt dazu. Die jüngste Boxer-Variation passt zum zweirädrigen Retro-Trend wie die Krachlederne zum Oktoberfest (ja, wirklich: vor nicht allzu langer Zeit ging man im Anzug auf die Wiesn). Für den Geländeeinsatz lässt man am besten alles weg, was man nicht unbedingt braucht. Denn was nicht dran ist, kann beim Sturz auch nicht kaputtgehen. Die Scrambler wirkt tatsächlich ziemlich puristisch. Ein nüchterner Rundscheinwerfer, kleiner Kotflügel und Gummifaltenbälge an der konventionellen Telegabel. Auf die aufwendige Upside-down-Gabel der R nineT verzichtet die Scrambler.

Beim Blick auf das Datenblatt wird klar, dass sie es mit der Geländetauglichkeit nicht sehr ernst meint: vorne 125 Millimeter uns hinten 140 Millimeter Federweg reichen gerade, um nicht am Gullideckel hängen zu bleiben. Die Fahrwerksabmessungen weichen etwas von der Straßenversion ab. Der Radstand ist mit 1527 Millimeter länger als bei der nineT (1476 Millimeter) und der Nachlauf mit 110,6 Millimeter (statt 102,5 Millimeter) ebenfalls. Dafür fiel der Lenkkopfwinkel mit 61,5 Grad (nineT: 64,5 Grad) steiler aus.

Die Scrambler übernahm die ausgezeichnete Brembo-Bremsanlage der R NineT. Die Sitzbank ist nicht mehr sichtbar zweigeteilt. Als Besonderheit kann der Soziusrahmen demontiert werden, um die Scrambler vom Zwei-Personen-Betrieb auf Solofahrten umzurüsten. Der Lenker ist höher und die gezahnten Fußrasten sind weiter hinten und tiefer positioniert. Im Zusammenspiel ergibt sich eine aufrechte und entspannte Sitzhaltung.

Stilelement Doppelrohr-Auspuff

Als Eyecatcher dient die auffällige Auspuffanlage. Zwei übereinander angeordnete Endschalldämpfer gibt es zwar auch bei der R nineT, aber bei der Scrambler rutschten sie deutlich höher und sind mittlerweile als zentrales Stilelement bei allen Scramblern vorhanden. Mit einer per Seilzug betätigten Akustik-Klappe soll man auf basslastige Lärmemission umschalten können.

Gelungen ist der kleine, analoge Tacho. Danebengegriffen hat BMW allerdings bei den Felgen und wären wir boshaft, könnten wir dabei Absicht unterstellen, denn Leichtmetall-Gussräder sind bei einem Scrambler ein unverzeihlicher Stilbruch. Authentische Drahtspeichenfelgen gibt es zwar auch, aber nur gegen Aufpreis. Die Reifendimensionen wählte man für den dezenten Offroad-Look natürlich auch anders. Vorne dreht sich ein 19-Zoll-Rad, hinten beließ man es bei 17 Zoll, wählte aber die Breite des Hinterrads um eine Nummer kleiner mit einem 170/60-17-Pneu. Die auf manchen Pressefotos montierten groben Endurostollen Metzeler Karoo – BMW hat sich die Reifenfreigabe gesichert – mögen vielleicht cool aussehen, verschlechtern aber das Fahrverhalten auf der Straße.

Der Motor ist der bewährte, noch luftgekühlte 1170-Kubikzentimeter-Boxer der vorletzten Generation. Mit 110 PS und 116 Nm Drehmoment sorgt er jederzeit für druckvollen Vortrieb. Allerdings wurde das Motor-Mapping in Hinsicht auf die neue Norm abgestimmt und das Kraftstoffsystem mit einem Aktivkohlefilter für die Tankentlüftung ausgestattet. Dass die Scrambler über jede Menge elektronischer Helfer verfügt, braucht man bei einer BMW wahrscheinlich nicht mehr extra zu erwähnen, höchstens, dass die automatische Stabilitätstkontrolle (ASC) Aufpreis kostet.

Der Weg zum Bestseller

Keine Frage, die Scrambler wird sich in die Bestsellerliste einschreiben. Ihr Geheimnis: Moderne Technik in – vermeintlich – alter Hülle. Den Preis hat BMW noch nicht bekannt gegeben, er ist aber auch egal. Die R nineT kostet zurzeit 14.900 Euro ohne Extras. Und die Extras-Liste ist bei BMW lang. Die Fans der bayerischen Marke werden ohne mit der Wimper zu zucken die gleiche Summe dem Händler für die Scrambler aufdrängen und reichlich Kreuze bei der Aufpreisliste machen. Coole Sachen wie Startnummerntafeln, Windschild, Unterfahrschutz oder ein handgebürsteter Aluminiumtank machen die Individualisierung leicht, treiben den Preis aber auch weiter nach oben.

Zum Schluss die schlechte Nachricht: Die Scrambler wird erst Ende 2016 in den Handel kommen. Unser Tipp: Früh vorbestellen!