Fahrbericht Kawasaki ZX-10R SE

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Flüssige, langgezogene Kurven auf der Rennstrecke Almeria. Die Kawasaki ZX-10R fährt den größten Teil der Strecke im zweiten Gang, manchmal müsstest du runter in den ersten, um vollen Schub zu kriegen. Dazu war ich zu faul, aber wir können dieses Motorrad nicht besprechen, ohne beim Elefanten im Raum anzufangen: Kawasaki hatte fürs Modelljahr 2016 die Nennleistung auf 200 PS erhöht, ohne die Feinheiten der Euro-4-Zulassung schön hinbekommen zu haben, sodass diese 200 PS in einem Tausender-Vierzylinder erreicht werden wie in einer besseren 600er. Wenig erstaunlich wollte das kaum jemand kaufen, denn Honda, BMW und Suzuki verkaufen dasselbe Rezept mit Bumms ab Standgas.

Makel Motor bleibt

Bei der Vorstellung im Januar 2016 erzählte der Projektleiter Matsuda einer Runde ungläubig guckender deutscher Journalisten, das luftpumpige Drehmoment unten-mitte sei Absicht, weil die Konkurrenz zu viel davon hätte. Er führte sich kurz darauf selbst ad absurdum, als er uns die Track-Version fahren ließ, die ein zur argen Nennleistung passendes Drehmoment abliefert. Man gehe todsicher davon aus, dass auch Kawasakis SBK-Siegerbikes mit Drehmoment aus den Ecken zogen. Die "Zehner" bleibt ein tolles Motorrad. Ihr Makel Motor bleibt, wie er ist: ein Grundsatzproblem. Dazu kommt: Kaum ein Händler stellt sich noch japanische Superbikes in den Laden, weil die Verkaufszahlen zu gering sind – wie von den 600er-Supersportmotorrädern bekannt ein massiv selbstverstärkender Prozess.

Wer die 200 PS noch im Kopf hat, könnte zum Gedanken verleitet werden, ein starker unterer Bereich wäre nicht so wichtig oder geringes Drehmoment gar tatsächlich der Fahrbarkeit wegen vorteilhaft – ebenso nachvollziehbar wie leicht widerlegt. Es reicht eine andere Auspuffanlage, und die Zehner zieht mit denselben Mappings auf einmal so stark an wie andere aktuelle Tausender. Sie beschleunigt damit fast überall frappant stärker. Es ist nicht möglich, diese Kawa mit Standardauspuff im Getriebe herumsteppend in einem sweet spot zu halten, dass derselbe Fahrer dieselben Beschleunigungen fahren könnte. Das gilt für Hobbyracer noch mehr als für Rennfahrer. Weniger schalten müssen war immer einer der Hauptgründe, Rennstreckenfahren auf der Tausender zu lernen.

Die große Stärke

Während der Motor enttäuschte, gab es über das Showa-Fahrwerk der Zehner nur Gutes zu berichten. Es dämpfte satt und mit Reserven. Wer ein anderes Verhalten brauchte, konnte die Shims in den hinter der Gabel abstehenden Zylindern in von Showa vorkonfektionierten Paketen austauschen. Das war alles schon nahe an dem, was der Rennfahrer braucht. Die neue SE-Version der 10R legt ausgerechnet an diesem stärksten Punkt nach und bringt das elektronisch einstellende Dämpfersystem des Fahrwerks-Zulieferers Showa in Serie.

Seid mir nicht böse, aber die SE-Version wird die Verkaufszahlen der ZX-10R auch nicht retten – vor allem, weil sie 5300 Euro mehr kostet als die Standardversion und 3000 Euro mehr als die rennsportnähere ZX-10 RR, dabei dem Kunden aber kaum etwas bietet, das er wirklich bemerkt. Kawasaki sagt zu recht, dass Motorradfahrer selten etwas an einstellbaren Fahrwerken ändern. Die Japaner ziehen daraus jedoch den Schluss, dass der Schraubendreher diese Menschen abschreckt. Das bestreite ich. Nicht der Schraubendreher schreckt sie ab, sondern die berechtigte Angst, aus Unwissenheit schädliche Einstellungen vorzunehmen. Hier kann ein semiaktives Fahrwerk mit Automatismen viel helfen. Showa verschenkt jedoch die meisten Chancen der Technik.

Am schnellsten

Die Eckdaten des Systems sehen vielversprechend aus. Showa verwendet eigens für den Motorradeinsatz entwickelte einstufige Proportionalventile mit mechanischen Schaltzeiten von zackigen 1 ms. Die Konkurrenz verwendet hier Ventile mit 7 ms (BMW/Sachs). Dazu kommt ein Steuergerät, dessen Schleife 10 ms läuft, um aus den Parametern Geschwindigkeit, Beschleunigungen (aus der IMU), Bremsdruck und Dämpferpositionen einen neuen Stellwert für das Ventil auszugeben. Letztendlich zeigen schon die Unterschiede von Ventil zu Steuergerät, dass es sich bei Showas Versprechen "wir sind die Schnellsten" um eine Wahrheit handelt, die beim Fahren am Ende mit allen weiteren Latenzen kaum auffällt. Will sagen: Man erwarte nicht, dass die "Kawasaki Electronic Control Suspension" (KECS) sich radikal anders anfühlt als andere semiaktive Systeme.

Showas Ziel war es laut Eigenaussage, vor allem im Hinblick auf den Rennstreckenbetrieb ein möglichst harmonisches Verhalten zu liefern, das den Gewohnheiten der Fahrer entspricht und nur dort eingreift, wo Probleme auftauchen können. Am deutlichsten fällt das an der dezenten Anti-Dive-Funktion auf, weil eben nix auffällt. Die Gabel taucht beim Bremsen einfach schön kontrolliert gedämpft ab und kommt ebenso wieder hoch. Das geht sicherlich mit einigem Ventilgezitter einher, das den Vorgang optimiert, aber das Tragische ist: Ich wette Geld darauf, dass keine Sau den Unterschied mit oder ohne semiaktives Gezitter merken würde. Denn wie gesagt: Das Showa-Fahrwerk, auf dem das System aufbaut, war schon vorher sehr gut, auch auf der Bremse.

Unterschiedliche Modi

Wo die elektronische Steuerung tatsächlich auffällt, ist beim Umschalten zwischen den Modi. Es gibt einen komfortablen Road-Modus, der dennoch gut dämpft auf der Landstraße. Als Gegenspieler bietet Kawa einen Track-Modus an, der aufgrund straffer Gabeldämpfung mit Feedback und Bremsstabilität glänzt und trotz seines Namens auch auf glatten Landstraßen passt. Und schließlich gibt es den manuellen Modus, in dem der Nutzer frei seine eigenen Settings einstellen kann, beziehungsweise: muss. Denn das Track-Setting funktioniert aus der Packung heraus nicht so richtig gut on track.

Die straffe Gabel hilft zwar auf der Bremse, macht das Fahrzeug aber sehr träge in Schräglage, wo es sich dann tendenziell weite Linien sucht. Beim Beschleunigen pumpt dann das Federbein leicht. Ich erinnere mich an keine solche Unausgewogenheit in keinem Kawa-empfohlenen Setting des Standard-Fahrwerks. Fairerweise dazu: Wir können hier keinen direkten Vergleich ziehen, weil es unterschiedliche Rennstrecken waren. Auf jeden Fall hatten Kawas Testfahrer ein angepasstes Setting für Almeria in petto, das sie uns im manuellen Modus einstellten: etwas weniger Dämpfung vorn, fast an den Anschlag gedämpft hinten. Das funktionierte deutlich harmonischer. Denn der merkwürdig niedrige, weit hinten liegende Sitz der Zehner hilft alleine schon in der Bremszone, weil du dich mehr am Tank abstützt als mit den Armen am Lenker.

Mehr 2018, bitte

Damit sind wir aber am Kernproblem des teuren Showa-Systems angelangt: Es versteckt sich so sehr, dass es das ganze Potenzial der elektronischen Dämpfung verschenkt. Denn wenn ich sowieso einstellen muss, gibt es keinen Vorteil gegenüber dem Schraubendreher, im Gegenteil. Man könnte ein solches System heute so bauen, dass der Fahrer bequem mit dem Smartphone über eine sichere Bluetooth-Verbindung Settings eingibt. Diese Settings muss er sich auch nicht selber ausdenken, sondern die könnte ein Expertensystem auf Kawas Servern ihm empfehlen, nach Übermittlung der Messwerte einiger Runden auf der zu fahrenden Strecke.

Das Expertensystem könnte ihn auch klassisch nach Problemen fragen ("pumpende Hinterhand"), auf die es Lösungen gleich als Settings schickt. Auch BMWs GPS-gesteuerte Dämpfungssteuerung für schwierige Ecken (in der Racing-Software) fehlt. Man könnte so viel machen. Real gibt es nicht einmal mehrere Slots für eigene manuelle Einstellungen. Der Kunde muss also jedes Setting für jede Strecke wie bisher separat notieren und umständlich am Lenker fummelnd einstellen. Für 5300 Euro Aufpreis und 2 kg Zusatzgewicht erwarte ich mehr ... ich weiß nicht, 2018?

Zum semiaktiven Fahrwerk erhält die SE noch ein anderes Dekor, die massenzentrierteren Schmiedefelgen der RR und den sehr guten Autoblipper der RR, mit dem der Quickshifter auch ohne Kuppung herunterschaltet. Die Schwächen des Motors, die merkwürdige Ergonomie, sie bleiben uns wahrscheinlich erhalten, bis Kawasaki zum Anlass Euro 5 um 2020 herum ihr Superbike-Konzept komplett neu aufrollen müsste. Ich als alter Kawa-Freund hoffe auf einen Moment wie im Jahr 2009, als die kleine Schwester ZX-6R in allen Punkten im Jahr 2009 ankam.

Die ZX-10R SE kann ich zwischenzeitlich nicht empfehlen. Wer sich auf der aktuellen Zehner wohlfühlt, sollte die RR kaufen und auf Rennstrecke umbauen: andere Auspuffanlage, anderer Sitz, und du musst keine BMW fürchten. Und den Schraubendreher auch nicht: An Rennstrecken stehen lebende Expertensysteme herum, die Renntrainingsbuchern kostenlos bei ihren Einstellungen helfen. Dann hast du ein tolles Motorrad, das allerdings nicht mehr auf öffentliche Straßen darf.