Fahrbericht: Volvo V60 Polestar

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München, 6. September 2016 [–] Es ist mitunter ganz erstaunlich, wo Hersteller Lücken im Programm ausmachen. Aktuell gibt es gerade Zuwachs in der Mittelklasse zwischen 350 und 400 PS. Mercedes stellt dort den C 43 AMG, Audi den S4. Auch Volvo will in dieser Klasse künftig mitmischen, obwohl größere Stückzahlen kaum zu erwarten sind. Als Basis dient der schon etwas betagte V60.

Nachhilfe von Polestar

Denn die erst im vergangenen Jahr zugekaufte Tuning- und Motorsportfirma Polestar soll es nun richten und den Elchen etwas nachhelfen. Das ist nicht ganz neu, denn einen V60 Polestar mit Reihensechszylinder gab es bereits zuvor, er wurde allerdings nur in wenigen Märkten verkauft. Die Zeiten ändern sich und alles, was nicht dem neuen Zweiliter-Standardblock entspricht, welcher bei Volvo nun Ausgangsbasis für alle, ja wirklich ALLE Motoren geworden ist, muss eben Stück für Stück mit jeder Modellpflege weichen. Folglich ist der Reihensechser, wie auch schon der Fünfzylinder, bei Volvo seit gut zwei Jahren Geschichte.

Schwergewichtig

Feuer macht jetzt ein Zweiliter-Vierzylinder mit Registeraufladung. Im unteren Drehzahlbereich sorgt ein Roots-Kompressor für kräftig Schub und direktes Ansprechverhalten, obenrum ein Turbolader. Als Resultat stehen 367 PS und 470 Nm im Datenblatt. Nur: Ein wenig verpuffen diese beeindruckenden Daten, wenn das Datenblatt mit echter Physik aufeinandertrifft. Und diese Physik hat insbesondere in Bezug auf Masse Gesetze geformt, welche imstande sind, das Kräfteverhältnis zwischen 367 PS und knapp 1,8 Tonnen Fahrzeuggewicht schnell wieder geradezurücken. Soll heißen: Langsam ist man mit dem V60 Polestar ganz sicher nicht unterwegs. Aber eben auch nicht ganz so flott, wie es die 367 PS versprechen würden, zumal der Motor im oberen Drehzahlbereich doch ein wenig zugeschnürt wirkt.

Überhaupt sind die Möglichkeiten mit denen die Jungs und Mädels von Polestar spielen konnten, etwas eingeschränkt. Denn während die Schnellmacher bei Audi und Mercedes schon von Anfang an in der Entwicklung mitreden dürfen, haben die Polestar-Leute ein fertiges Auto vor sich, und ein vergleichsweise altes noch dazu. Für kommende Modelle wird sich das natürlich ändern, für den Moment mussten sie eben mit dem arbeiten, was sie hatten. Und sie haben sich reichlich Mühe gegeben, ein gutes Paket zu schnüren.

Natürlich gibt es im Innern ein wenig Lametta, ein bisschen Nubuk-Textil/Nappalederbezug hier, ein paar blaue Nähte dort, das eigenwillige Design wurde also nur durch ein paar fein platzierte Details aufgewertet. Doch dass auch an den relevanten Komponenten gearbeitet wurde, ist spätestens dann zu merken, wenn man im V60 Polestar den Großglockner wieder und wieder hoch- und runterrauscht, weil es eben doch einfach ein Fest ist, wie der Kombi spurt und fliegt. Einstellbare Öhlins-Dämpfer und 80 Prozent steifere Federn sorgen dafür, dass der sportliche Kombi auch querdynamisch eine gute Figur macht.

Untersteuern

Allerdings ist das feine, wenn auch recht harte Fahrwerk und die 245er Gummis gegen früh einsetzendes Untersteuern dann doch ein wenig machtlos. Ob es am hohen Gewicht oder der doch eher konservativen Abstimmung liegt: Es wäre mehr drin. Und es ist schade, wenn Du mit der knackigen 6-Kolben-Bremse den Anker wirfst, angenehm direkt einlenken kannst und dann im Untersteuern verhungerst. Immerhin: Auch der Allradantrieb wurde ein wenig nachgeschärft, um im Sportmodus konsequent 50 Prozent des Drehmoments an die Hinterachse zu verteilen. Mehr geht systembedingt nur, wenn die Vorderachse gar nichts mehr übertragen kann. Folglich bleibt er unter Last zwar sehr lange neutral, nur gegen Untersteuern ist er ein wenig machtlos. Dafür konnten die Fahrwerkstechniker unerwünschten Karosseriebewegungen erstaunlich gut den Garaus machen, wobei Karbonfaser-verstärkten Querstabilisatoren und einer Karbonfaser-Domstrebe hilfreich sind.

Röhren und rollen geht nicht

Damit sich das sonst so sehr um Sicherheit bemühte Stabilitätsprogramm in Zurückhaltung übt, lässt sich das System auch soweit abschalten, dass es auf der Landstraße nicht mehr spürbar in Erscheinung tritt, sofern man nicht völlig maßlos übertreibt. Dass ansonsten aber ein wenig um die existierende Basis herumgebastelt werden musste, spürt man insbesondere bei den „Fahrdynamikprogrammen“ - wenn wir sie denn so nennen wollen. Ein Beispiel: Zwar gibt es an Bord eine Abgasanlage mit Klappensteuerung, welche den V60 röhren lässt wie einen brünftigen Elch. Aktivieren lässt sie sich allerdings nur, wenn im Getriebe der Sportmodus gewählt wird. Soll heißen: Die Automatik schaltet früher zurück und später hoch. Komfortables Rollen UND röhrende Akustik geht also nicht in Einheit. Außer eben, der Pilot greift selbst in die Schaltwippen. Die Härte der elektromechanischen Servolenkung dagegen lässt sich zwar einstellen, aber eben nur verschachtelt in den Menütiefen des Infotainmentsystems. Durch den Sportmodus wird sie nicht beeinflusst.

Und dann wäre da noch der Sport-Plus-Modus, eine undokumentierte Funktion, welche die Polestar-Entwickler ins System gehackt haben. Sie war wahrscheinlich eher zum Debugging gedacht, später ließ man sie einfach drin. Hier wird die Drehzahl konsequent über 4000/min gehalten und erst unmittelbar vor dem Begrenzer geschaltet, im manuellen Modus wird der Gang sogar am Drehzahllimit gehalten. Doch der schönste Beweis dafür, dass man eben eigentlich viel zu spät im Produktzyklus eingreifen durfte, ist die Aktivierung dieses „Sport-Plus“-Modus. Das Fahrzeug muss sich im Stillstand befinden. Der Fahrer legt den Vorwärtsgang ein, wählt die S-Schaltgasse. Dort drückt er den Schalthebel nach vorn (+) und hält ihn dort, während er die linke Schaltwippe zwei Mal zieht. Ein kurz blinkendes “S” im Kombiinstrument weist dann darauf hin, dass der Sport-Plus-Modus aktiviert ist.

Vorfreude

Am Ende bleibt also ein leichter Beigeschmack bestehen: So schön dieser V60 Polestar auch ist, so schön es ist, in dieser Klasse eine Alternative zur deutschen Vertreterschar zur haben, so sehr leidet dieser Volvo dann doch unter seinen Wurzeln. Für sich betrachtet ist er ein ganz feines Auto. Man sitzt bequem und ergonomisch, kann auf der Bahn mächtig gut geradeaus, er geht ganz gut ums Eck und er schaut gut aus. Dazu fährt er eine Armada an Sicherheits- und Assistenzsystemen auf, die auch in dieser Klasse nicht selbstverständlich ist. Sicher, komfortabel ist er mit seinem straffen Fahrwerk nicht mehr, das können seine adaptiv dämpfenden Konkurrenten besser.

Trotzdem haben die Polestar-Leute ein sehr interessantes Paket geschnürt. Kennt man allerdings bereits die neuen Volvo, die auf ihrer eigenen Plattform aufbauen, wird klar, dass da noch mehr geht. Und weiß man, dass Polestar künftig schon während der Entwicklung mitreden darf, dann bleibt für die Zukunft vor allem eines: Vorfreude. Denn dass sie ihr Handwerk verstehen, haben die Göteborger nicht nur in der STCC bewiesen. Insofern ist der V60 Polestar eine mehr als interessante Alternative, vor allem aber ein guter Vorgeschmack auf das, was da noch kommen wird.