Fahrbericht: Yamaha Niken

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Innovationen im Motorradbau werden seit jeher heiß diskutiert. Was mit ABS in den frühen Neunzigern begann, setzte sich in den Zweitausendern bei der Schlupfregelung fort: Fahrassistenzsysteme wurden von vielen zunächst als Angriff auf die Selbstbestimmung empfunden. Besonders heiß wird es, wenn ein neues Konzept die Vorstellung vom Motorrad in ihren Grundfesten erschüttert, wie aktuell das Elektrokrad.

Wie an den Reaktionen zu Yamahas neuen Niken (sprich: Neiken) zu sehen, geht es aber noch heftiger. Selten hat ein Motorrad im Vorfeld so viel Häme einstecken müssen, wie das Dreirad, ähhh das Leaning Multi Wheeler genannte Motorrad von Yamaha.

Können drei Räder Motorrad?

Alle, die sich ein wenig mit der Yamaha Modellpalette auskennen, werden sich vielleicht schon bei der ersten Präsentation der Niken Ende 2017 gefragt haben, woher die Japaner den Mut zu so einem Konzept nehmen. Zur Erinnerung: Bereits 1993 versuchte sich Yamaha mit dem Sporttourer GTS 1000 am ersten in Serie produzierten Motorrad mit Achsschenkellenkung. Und bereits vor 25 Jahren wurde die Experimentierfreude der Japaner abgestraft. Mit in Deutschland nur knapp 1400 verkauften Exemplaren konnte die GTS getrost als Flop bezeichnet werden. Schuld war damals aber vor allem die mangelnde Reife des Systems, das keine wirklichen Vorteile generierte sowie die unglücklich gewählte, kurvenunwillige Vorderraddimension von 130/60.

Nun versuchen es die Ingenieure aus Iwata also erneut mit einer extravaganten Vorderradaufhängung. Doch während bei der GTS komplett auf den konventionellen Ansatz des telegabelgeführten Vorderrads verzichtet wurde, kommt er bei der Niken sogar in doppelter Ausführung. Zwei Räder statt einem, vier Gabelholme statt zwei. Und hier beginnt schon die Grundsatzdiskussion. Geht ein Motorrad mit drei Rädern? Und – viel wichtiger – können drei Räder Motorrad?

Viel besser als gedacht

Doch lassen wir die Aufhängung erstmal außen vor. Die Niken bringt alles mit, was man für ein Motorrad braucht. Das Herzstück ist ein alter Bekannter. In der Niken werkelt nämlich der 847 Kubikzentimeter große CP3-Motor aus der MT-09 und der Tracer 900, der mit 115 PS und seinen 87,5 Nm Drehmoment nominell eins zu eins aus der MT übernommen wurde. Einziger Unterschied: um die Fahrbarkeit zu verbessern, wurde die Kurbelwelle überarbeitet und die Trägheit um 18 Prozent erhöht.

Umspannt wird das Triebwerk von einem sogenannten Hybrid-Rahmen, der so heißt, weil er aus einem Stahlgitterrohr-Teil und einem steifen Aluminium-Element für die Schwingenaufnahme besteht. Obwohl es sich beim Rahmen um eine Neuentwicklung handelt, ist die Ergonomie der Niken einem aktuellen Modell der Yamaha Produktpalette sehr ähnlich, sogar die Abmessungen des Dreiecks aus Lenker, Sitz und Fußrasten wurden vom Sporttourer Tracer 900 übernommen. Einziger Unterschied: der Fahrer wird aufrechter und etwas weiter hinten platziert.

Yamaha geht diesen Weg aber nicht, um die Niken noch komfortabler als die Tracer zu machen. Vielmehr wird die Sitzposition nötig, um die Balance des Motorrads mit Fahrer auf eine Gewichtsverteilung von 50:50 auf Vorder- und Hinterrad zu erreichen, da die Kombination aus doppelter Upside-Down-Gabel und der Parallelogrammkonstruktion, die der Niken ihre Schräglagefähigkeit verleiht, deutlich mehr Gewicht als eine Standardgabel mit sich bringt.

Fühlt sich an wie ein Zweirad

Während der Fahrt merkt man davon erstaunlicherweise aber nichts. Zwar wirkt die Niken beim ersten Platznehmen durch die ausladende Front recht wuchtig, ist man aber erst mal in Bewegung, glänzt die Niken mit Agilität und lässt sich überraschend leichtfüßig dirigieren. Das Erstaunlichste daran: sie fühlt sich dabei an wie ein Zweirad. Gut, die 262 Kilogramm vollgetankt lassen sich nicht wirklich kaschieren und man merkt dem Mopped natürlich an, dass es eher zum entspannten Reisen denn zum sportlichen Rasen gebaut wurde. Grundsätzlich unterscheidet es sich im Fahrverhalten aber nicht von einem klassischen Motorrad und erinnert dabei an einen großer Sporttourer. Etwas ist dann da aber doch anders.

Denn die Niken vermittelt ab dem ersten Meter extrem viel Vertrauen. Wenn sich das aus dem Mund des Yamaha Produktmanagers auch noch wie eine klassische Marketing-Phrase anhörte, stellt sich tatsächlich innerhalb kürzester Zeit ein positives Fahrgefühl ein. Der Beleg folgte sprichwörtlich auf dem Fuße. Kaum hatten wir die Ortsgrenze hinter uns gelassen, schrabbelten bereits in der ersten Kehre Stiefelspitze und Fußraste über den Asphalt. Was hatte der Yamaha Manager noch gleich gesagt? „Die maximal mögliche Schräglage mit der Niken beträgt 45 Grad und die Rasten dienen als Indikator für den Grenzbereich“?

Mit keinem anderen mir unbekannten Motorrad wäre ich nach nur wenigen Kilometern und so wenig Eingewöhnung so weit gegangen. Schon gar nicht bei noch kalten Reifen und nur knapp zweistelligen Außentemperaturen. Erstaunlicherweise generiert die Niken das Vertrauen in die Front nicht über Transparenz und glaskares Feedback, was bei der touristisch ausgelegten Sitzposition mit dem hohen und breiten Lenker auch überraschend gewesen wäre. Hier ist es tatsächlich das zweite Vorderrad und der zusätzliche Grip, die den Unterschied ausmachen. Zwar fallen die Räder mit einem Durchmesser von 15 Zoll kleiner aus als bei einem normalen Motorrad, dank der Dimensionierung von 120/70 werden Auflagefläche und Grip an der Front aber buchstäblich verdoppelt. Besonders spürbar wird das, wenn die Bedingungen schlechter werden.

Ego-Booster

Genau dann kann die Niken nämlich ihre enormen Stärken ausspielen. Ist man auf schwierigem Geläuf unterwegs, entwickelt sich die Niken förmlich zum Ego-Booster, da man innerlich eigentlich immer einen Tick entspannter als auf einem normalen Motorrad ist. Dabei ist es völlig irrelevant, welche Widrigkeiten die Strecke bereithält. Egal, ob man auf flickenübersäten Nebensträßchen unterwegs ist, ob man beim Pässe fahren in einen Schauer gerät oder ob man bei zügiger Gangart hinter einer Kurve von Dreck auf der Ideallinie überrascht wird, dank des enormen Grips an der Front steckt die Niken alles fast unbeeindruckt weg.

Dabei ist besonders bemerkenswert, wie harmonisch das Fahrwerk arbeitet und Unebenheiten und Fugen fast wegfiltert. Selbst bewusstes Herausfordern der Fahrphysik durch große Unterschiede in der Belastung wie einseitiges Durchfahren von Schlaglöchern lässt die Front unbeeindruckt. Wer jetzt denkt, das liegt vor allem an der Gabel mit vier Holmen, der irrt. Federung und Dämpfung befinden sich an der Niken nur im hinteren Holm, der vordere dient lediglich dazu, das Vorderrad zu führen und am Verdrehen zu hindern.

Wie gut das System funktioniert, spürt man am Heck des Motorrades. Denn wenn etwas rutscht, dann das Hinterrad. Und das kommt sogar recht häufig vor. Durch das immense Vertrauen, das die Niken vermittelt, verleitet das Motorrad dazu, auch auf Straßen anzugasen, auf denen man sonst eher zurückstecken würde. So kommt es, dass das Heck immer wieder mit kleinen Rutschern zur Mäßigung mahnt. Da die Niken in der Regel auch diese wegsteckt, ohne die standardmäßige Schlupfregelung zu bemühen, findet man fast Gefallen daran, wenn das Heck leicht auskeilt.

Vertrauenssache

Die Möglichkeit, die Niken auch in engagierter Gangart bewegen zu können, ist aber eher als Nice-to-Have zu betrachten. Ihre eigentliche Stärke sind ihre Touring-Qualitäten. Diese sind aber nicht nur in der bequemen, aber angenehm straffen Sitzbank, dem hohen Lenker, dem Tempomat und ihrer Soziustauglichkeit zu suchen. Auch hier spielt die Konstruktion mit den zwei Vorderrädern eine entscheidende Rolle. Denn durch den zusätzlichen Grip und das daraus resultierende Vertrauen in die Front ist das Fahren mit der Niken auch weniger ermüdend, sodass man auch nach mehreren hundert Kilometern entspannter vom Motorrad steigt, als man es gewöhnt ist.