Der englische Patient

Großbritanniens Autoindustrie stirbt

Großbritannien hatte es bis jetzt vor allem Toyota, Nissan und Honda sowie Ford, Opel (dort Vauxhall) und BMW (Mini) zu verdanken, dass dort noch Autos in nennenswerten Stückzahlen gebaut wurden. Nun sind auch die letzten großen Werke auf dem Rückzug

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  • iga
Inhaltsverzeichnis

Großbritannien steht mit dem beschlossenen Brexit 2020 vor gravierenden Veränderungen. Das wird fraglos auch weitreichenden Auswirkungen auf die traditionsreiche, britische Automobilindustrie haben. Wir widmen uns dieser in mehreren Teilen.

Basics zur britischen Autogeschichte vor 1914

Britische Autogeschichte: Zwischen den Kriegen

Die britischen Autogeschichte: Von 1945 bis heute

Der Brexit dürfte zum endgültigen Totengräber der britischen Autoindustrie werden. Abgesehen von Kleinserienherstellern wie Morgan oder McLaren gibt es schon lange keine Marken mehr in einheimischem Besitz. Das Vereinigte Königreich hatte es bis jetzt vor allem den japanischen Giganten Toyota, Nissan und Honda sowie Ford, Opel (dort Vauxhall) und BMW (Mini) zu verdanken, dass dort überhaupt noch Autos in nennenswerten Stückzahlen gebaut wurden.

80 % der Produktion wird exportiert, 60 % davon in die EU

Nun sind auch die letzten großen Werke auf dem Rückzug, die Hersteller sehen keine Zukunftsperspektive in einem Vereinigten Königreich, das nicht mehr zur EU gehört. Es wird auf die gesamte britische Wirtschaft verheerende Auswirkungen haben, denn 80 Prozent der auf der Insel gefertigten Autos gehen in den Export, allein 60 Prozent davon in die EU. Umgekehrt werden sehr viele Autokomponenten in der EU gefertigt und nach Großbritannien eingeführt, manche überqueren den Ärmelkanal sogar mehrfach bis sie endgültig verbaut werden.

Nach einem No-Deal-Brexit würde Großbritannien zunächst unter die WTO-Zolltarife fallen und das bedeutet zehn Prozent auf jedes einzelne Teil beim Import und noch einmal zehn Prozent beim Export des fertigen Autos – was die Sache für die Hersteller unrentabel macht. Eine Produktion nur für den britischen Markt lohnt sich für die Autohersteller nicht, dafür ist das Vereinigte Königreich einfach zu klein.

Vom Zweitbesten zum Hinterbänkler

Großbritannien war noch in den 1950er Jahren die zweitgrößte Autonation der Welt, nur in den USA wurden damals mehr Autos gebaut. Es gab eine fast unüberschaubare Vielfalt an kleinen und großen Herstellern, Marken wie Rolls Royce, Jaguar, Aston Martin und Bentley galten als führend in der Luxusklasse. Doch bereits in den 1960er Jahren begann die Autoindustrie auf der Insel zu kriseln.

Es gab krasses Missmanagement, Fehlentscheidungen in der Modellstrategie, unheilvolle Fusionen, erhebliche qualitative Mängel und dazu noch eine erschreckende Arroganz gegenüber den Kunden. Viele britische Hersteller glaubten damals, der bekannte Markenname würde ausreichen, damit die Leute auch weiterhin ihre Autos kaufen würden. Dann schloss ein Werk nach dem anderen, viele Marken gingen Pleite, andere überlebten nur, weil sie von ausländischen Firmen gekauft und saniert wurden. Mittlerweile ist das Vereinigte Königreich unter den Autohersteller-Nationen auf Platz 15 abgesackt und wird nach dem Brexit wohl noch weiter sinken.

Großbritannien bot den Autoherstellern immerhin zwei Vorteile: Zum einen eine gewachsene Infrastruktur samt etablierter Zulieferindustrie und zum anderen die Zugehörigkeit zum EU-Markt. Das veranlasste Toyota, Honda und Nissan vor einigen Jahrzehnten, Werke in England zu errichten, um so die Zölle für die EU zu umgehen. BMW baute zur Jahrhundertwende ein modernes Werk in Oxford für den neuen Mini, dessen Namensrechte man sich durch den Kauf von Rover gesichert hatte. Ford unterhielt traditionell Produktionsstätten in Großbritannien, ähnliches galt für GM, die Opel-Modelle unter dem Label Vauxhall auf der Insel bauten. Jaguar und Land Rover gehören seit 2008 zum indischen Tata-Konzern, blieben jedoch ihren Standorten in England bislang treu.

Über 850.000 Arbeitsplätze hängen an der Autoindustrie

Seit sich das Vereinigte Königreich in einem Referendum im Juni 2016 mit 51,9 Prozent knapp für den Austritt aus der EU entschieden hat, blickt die britische Autoindustrie mit großer Sorge in die Zukunft. Mehr als 850.000 Arbeitsplätze hängen in Großbritannien direkt oder indirekt an der Autoindustrie. Den ersten Austrittstermin am 31. März 2019 verschob die damalige Premierministern Theresa May, was die Autohersteller zum Teil mit Erleichterung, zum Teil aber auch mit Ärger aufnahmen.

So hatte zum Beispiel BMW seiner Mini-Produktion in Oxford befohlen, die sonst erst im Sommer üblichen Werksferien im April stattfinden zu lassen. Man hätte dadurch erst einmal den schlimmsten Trubel nach dem Brexit an sich vorbeiziehen lassen können. Produktionsprobleme folgten, dazu kamen große Unsicherheiten für den Import der erforderlichen Bauteile nach dem nächsten Brexit-Termin, denn eine Lagerhaltung der einzelnen Teile würde zu immensen Kosten führen.

Produktion um ein Fünftel eingebrochen

Als der neue Premierminister Boris Johnson vollmundig verkündete, dass sein Land am 31. Oktober 2019 auf jeden Fall die EU verlassen würde, ob mit oder ohne Deal, warnten die verbliebenen Hersteller in England ausdrücklich vor den fatalen Folgen. Ihre Produktion ist bereits um rund ein Fünftel im Vergleich zum Vorjahr eingebrochen, sie kam im ersten Halbjahr 2019 auf nur noch 666.521 Pkw.

Die ausländischen Besitzer der britischen Werke haben ihre Investitionen von Januar bis Juni um 70 Prozent runtergeschraubt – was darauf hindeutet, dass sie die Insel verlassen wollen. Nissan ist zurzeit mit 7000 Beschäftigten der größte Autohersteller in Großbritannien, verlagert jedoch bereits einen Teil der Produktion zurück nach Japan. Der japanische Hersteller hatte 1984 seinen Standort in Sunderland im strukturschwachen Nordosten Englands gewählt und wurde dort zu einem der größten Arbeitgeber. Umso erstaunlicher, dass die Einwohner dort mit 61 Prozent für den Brexit gestimmt haben.

Honda will sein Werk in Swindon 2021 schließen, womit 3500 Arbeitsplätze verloren gehen, die Zuliefererbetriebe noch nicht mitgerechnet. Toyota will bis Anfang nächsten Jahres überprüfen, ob sie weiterhin in Burnaston produzieren werden. In Anbetracht einer Exportquote von 90 Prozent der dort gefertigten Autos für die EU dürfte die Entscheidung für eine Werksschließung absehbar sein. Allein die drei japanischen Hersteller waren bisher für die Hälfte der englischen Autoproduktion verantwortlich.

Viele Werksschließungensind bereits beschlossen

BMW wird möglicherweise sein Mini-Werk in Oxford langfristig schließen. Schon jetzt werden große Stückzahlen des Minis bei VDL-NedCar in den Niederlanden produziert, außerdem gibt es wohl konkrete Überlegungen, die Produktion des Minis zumindest teilweise nach Südafrika zu verlegen, wo BMW schon seit den 1970er Jahren ein Werk in Rosslyn bei Pretoria besitzt. Jaguar Land Rover galt nach der Übernahme durch Tata 2008 als Musterbeispiel für eine gelungene Sanierung. Die neu entwickelten Modelle kamen gut an bei den Kunden und die Verkaufszahlen gingen nach oben.

Doch auch die beiden britischen Traditionsunternehmen bekommen inzwischen den eisigen Brexit-Wind zu spüren. Tata kündigte ein massives Sparprogramm an und 4500 der 9100 Arbeitsplätze werden entfallen. Land Rover besitzt ein florierendes Werk im EU-Land Slowakei und lässt dort den Discovery und vermutlich nächstes Jahr auch den neuen Defender fertigen. Auch Ford zweifelt am Sinn des Standorts Großbritannien, schließt seine Motorenproduktion in Bridgend, Southampton und Dagenham. Der US-Konzern fährt ohnehin einen harten Sparkurs und will sein zukünftiges Engagement im Vereinigten Königreich überdenken.

PSA-Boss Carlos Tavares kündigte für den Fall eines No-Deal-Brexit an, die nächste Astra-Generation nicht im Vauxhall-Werk in Ellesmere Port, sondern in Südeuropa fertigen zu lassen. Wenn jedoch die Autokonzerne Großbritannien verlassen, werden auch unzählige britische Zuliefererbetriebe ihre Auftraggeber verlieren, was die Arbeitslosenzahlen noch weiter nach oben treiben wird.

Wirtschaftliches Desaster für Großbritannien

Boris Johnson verspricht seinen Landsleuten weiterhin, sämtliche seriöse Wirtschaftsprognosen ignorierend, ein Goldenes Zeitalter nach dem Brexit. Im Bewusstsein eines sicheren wirtschaftlichen Desasters hält er stur am harten Brexit-Kurs fest, dem er seinen Posten als Premierminister verdankt.

Dass der Verlust der Autoindustrie Großbritannien im Mark erschüttern wird, scheinen viele Briten immer noch nicht wahrhaben zu wollen. Sie klammern sich an die Vorstellung, wieder an längst vergangene Zeiten anknüpfen zu können, wenn man erst einmal aus der EU raus ist. Doch die Wahrheit ist, dass es die Autoindustrie in Großbritannien nur ihrer Mitgliedschaft in der EU zu verdanken hatte, dass es ihr noch einigermaßen gut ging.