In der Zwielichtzone der Fernreisenden

Das Weg ist das Ziel

Über ein verlängertes Wochenende nach Santiago de Compostela, auf Honda VFR 800 F und KTM 1190 Adventure. Zu den Trommeln der Arbeitstakte mit Tankfüllungen als Tageseinteilung fanden wir schöne Heuböden

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Von
  • Clemens Gleich
Inhaltsverzeichnis

Jedes Mal auf Reisen muss ich an Turners Begriff der Liminalität denken, des Zwischenzustands, der auf den Reisenden zwischen zwei Orten ja ebenso zutrifft wie auf Menschen, die zwischen zwei gesellschaftlichen Zuständen stehen, zugehörig zu keinem von ihnen. Diese interessante Zwielichtzone lässt sich zeitlich beliebig weit ausdehnen, und die vielen, die davon süchtig wurden, tun das, indem ihre anfangs noch auf einen Zeitraum definierte Weltreisetouren zu ihrem Leben werden.

Wie so viele spätere Reisende füllte sich bei mir schon als Kind jedes Mal das Herz mit Trauer, wenn wir im Musikunterricht "Heute hier, morgen dort" singen sollten, aber gleichzeitig liebte ich das Lied von der ersten Note an, wahrscheinlich, weil klar war, dass hier ein Lebensgefühl besungen wird, dem ich sowieso ein Leben lang nicht entkommen können würde. Bis jetzt blieb das wahr und ist der Grund, warum ich "Heute hier ..." immer noch schöner finde als "For Auld Lang Syne", aus dem die Melodie ursprünglich wohl stammt.

He lost his dahoamity

In der Zwischenwelt namens "unterwegs" gelten die Regeln, Schwerpunkte, Emotionen des "dahoam" nicht mehr, was sich an manchen Fahrzeugarten besonders schön zeigt. Als Honda damals die 1200er-VFR brachte, dachte ich mir wie so viele Andere: "Was für ein scheußlicher Haufen Designgeschwulst." Nur widerwillig drehte ich überhaupt eine Runde, um das Doppelkupplungsgetriebe auszuprobieren. Die Runde berührte mich so wenig wie dieser billige Country-Song, den ich aus esoterischen Testgründen aus den USA nach /dev/null streame, um ihn erst gar nicht zu hören.

Einige Zeit später fuhr ich auf demselben Motorrad 1500 Kilometer. Es war super, denn in der Zwielichtzone ist es egal, ob die kleine Runde um den Block dein Hillbilly-Herz berührt wie ein korrekt gestreamter Country-Song oder nicht. Was zählt, ist vielmehr, ob du dem Verbrennungstakt des Motors unter dir den ganzen Tag lang zuhören kannst, denn diese Zwischenzeit lang bestimmt dieser Takt zusammen mit den Tankintervallen dein Leben. Dass die 1200er-VFR sich schlecht verkaufte, zeigt also, dass wir viel weniger solche Reisenden auf Krädern haben als früher. Und dass ihr Plastik doch zu schwülstig war, das auch.

Jetzt habe ich endlich auf der 800er-VFR die erste große Reisegeschichte mit Koffersystem fahren können, die aus dem letzten Jahr verschoben werden musste, weil es rum war, als die Koffer hier ankamen. Wir sind nach Santiago de Compostela gefahren, über ein verlängertes Wochenende, weil ich da schon lange mal hinwollte, aber nicht zu Fuß über den Jakobsweg voller Fußgänger, die dir erzählen, vor welchen Problemen sie weglaufen. Wenn man auch ein paar Kurven zirkeln will, sind das hin und zurück weit über 4000 Kilometer von Stuttgart aus. Es bedeutete bis zu 13 Stunden am Tag im Sattel, ein Denken in Tankfüllungen der reichweitenschwächeren KTM, die gut 300 Kilometer weit kam: "Eine Tankfüllung noch, dann machen wir Schluss für heute."

Es bedeutete auch, dass Wetter etwas sein musste, das unabhängig von weiterer Fahrt passiert. Und das wiederum hilft vielleicht, anderen Motorradfahrern zu erklären, warum es diesen Markt sehr teurer Tourenkombis gibt, den hauptsächlich Rukka und BMW unter sich aufteilen. Als ich zum Beispiel auf der KTM 690 Duke mit BMWs Tourenanzug "StreetGuard 4" zu ihrem ersten Test knapp 200 Kilometer durch den April nach Weibersbrunn fuhr, war mir das Teil trotz herausgenommenen Innenfutters schon zu warm für die herrschenden 18° C trockenen Frühlingswind. Als wir jetzt jedoch 700 Kilometer lang durch 6 bis 8° C kalten Regen in Nordspanien fuhren, hätte BMW von mir aus gern noch ein paar Heizpellets aus gekapseltem Plutonium-238 im Schultergürtel verbauen (lassen) können, denn nach einigen Stunden im Regen herumsitzen kühlt der Körper einfach aus. Dass sowohl die Stadler-Kombi meines Mitfahrers Philipp als auch meine BMW-Kombi 10 Stunden lang alle Schichten ab der Membran trocken und zumindest aushaltbar warm hielten, zeigt mir, dass man hier doch für mehr bezahlt als für kleine Aufnäherlogos. Ich versuche altersbedingt mittlerweile zu vermeiden, mit einem Pulli am Ziel abzusteigen, den ich auswringen muss, auf einem Körper, der auf ein halbwegs soziales Funktionsniveau erst fremderwärmt werden muss.

Reisen vs. Rasen

Selbst die Grundregeln der Geschwindigkeit ändern sich. Auf der Hausstrecke bist du schnell, wenn du alles gibst. Über Frankreich bist du schnell, wenn du abends heile in Spanien bist. Also zählt der Verbrauch von Treibstoff in Relation zur Tankgröße und der Verbrauch von Aufmerksamkeit in Relation zur Ausgeschlafenheit. Über den Tag macht Gleichmäßigkeit schnell, weil sie in jeder Hinsicht sparsamer ist als die Kampffahrt. Ich kann mich erinnern, als ich mich gegen Ende der Rückfahrt beim letzten Tanken von Philipp verabschiedete und nach ihm wieder auf die Autoroute fuhr. Nach einiger Zeit überholte er mich mit großer Differenzgeschwindigkeit. Zuerst dachte ich, er habe sich irgendwo verfahren, er erklärte aber später das Warum: "Weil ich viel schneller gefahren bin als du."

Über die Langstrecke gilt das Gebot der Tesla-Fahrer: "Wenn du schneller ankommen willst, fahr langsamer." Das gilt eben auch für die französische Autoroute im Vergleich zur deutschen Autobahn. Klar kannst du auf einem offenen Stück BAB legal viel schneller fahren. Aber über 1000 Tageskilometer ist man in Deutschland auch nicht schneller als bei den Nachbarn auf Tempomat 130. Man verbraucht nur mehr Sprit. Mein Argument für die die offene Autobahn war nie, dass sie schnell macht, sondern dass sie Freude macht.

Letztendlich erinnere ich mich an diese Reise weniger anhand ihrer fahrerischen Highlights, denn dazu war das Wetter zu schlecht, sondern ich erinnere mich an dieses beständige Gefühl des Flusses. Heute hier. Morgen am Meer. Untermalt vom beständigen Brabbeln des V4 im Zweiventilbetrieb, in dem er seiner Atemluft praktisch keinen Treibstoff beimischen muss. Meine Tage unterwegs fühlten sich rückblickend wie Wochen an, so komprimiert waren die Erlebnisse. Das gab einige Diskrepanzen bei der Heimkehr, denn ich fühlte mich wie der verlorene Sohn mit meinem Fünftagebart und sie sagte nur knapp: "Hallo." Ich möchte meine Schnellpilgerfahrt daher zur Nachahmung weiterempfehlen. Sie hat nämlich außer der Geschwindigkeit einen weiteren Vorteil gegenüber dem Fußweg: Die Pilgerindustrie in Santiago ist erwartbar profan. Ich glaube, wer sich monatelang die Füße wund scheuert und nach der Kathedrale dann im Flugzeug nach Hause reist, erlebt den Downer seines Lebens. Wir dagegen schlängelten uns durch ein unbekanntes Nordspanien. Der Fußgänger sucht sich auf dem Jakobsweg selber, sagt man. Aber ich weiß ja schon, wo ich mich finden kann, wenn ich das will. Hier. Jetzt. Wir fanden dagegen sehr merkwürdige Heuschober in Nordspanien, und die sind allemal interessanter als ich.