Klartext: Keep on Cyberin'

Teslas Cybertruck scheidet die Geister

Wenn der Wind der Autobahn weht und die Euro-NCAP-Bewertung ansteht, wird sich Tesla entscheiden müssen, was man mit diesen Kanten macht. Wahrscheinlich kommt der Cybertruck anders als gezeigt

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Von
  • Clemens Gleich
Inhaltsverzeichnis

Sie haben ihn sicher schon alle gesehen: Teslas Cybertruck rotiert durch alle Medien und Mem-Seiten. Hauptsächlich liegt das wohl an seinem kindlich-schlichten Geodreieck-Design. Als das Ding auf die Bühne fuhr, dachte man noch an einen Scherz, bevor das eigentliche Fahrzeug präsentiert würde, das man sich eher in die Richtung vorstellte, die verschiedene Zeichner vorher gezeigt hatten: eine Pickup-Form mit dem typisch cleanen Design des Herrn von Holzhausen, Chefdesigner der Firma. Stattdessen kam etwas sehr Kantiges.

Ich will gar nicht über Geschmack streiten. Ich finde das Design nicht toll. Ich finde es aber auch nicht so scheußlich wie Andere. Ich hege eher eine leichte Sympathie für das kindlich Schlichte dieser Gestaltung, denn es erinnert mich an das Rigger Black Book für Shadowrun. Dazu passt die Aussstattung mit Solar-Rollo über der Pritsche, gigantischen Außenmaßen und leichter Panzerung, die für große Erheiterung sorgte, als sie in der Demo nicht funktionierte.

Erheiterung für die Presse

Franz von Holzhausen warf eine Stahlkugel auf das Panzerglas des vorderen Seitenfensters. Es splitterte wie gewöhnliches Auto-Sicherheitsglas. „Lass es uns noch einmal versuchen!“, sagte von Holzhausen und warf sogleich die hintere Scheibe genauso kaputt. Erklärung laut Musk: Die Hammerschläge haben das Glas vorab beschädigt, deshalb brach es. Vielleicht entwickelte Franz dieselbe These schon auf der Bühne und probierte deshalb noch die hintere Scheibe, denn er hatte ja nur an die vordere Tür gehämmert.

Letztendlich ist das egal. Obwohl Elon Musk behauptet, der Cybertruck sei „literally bulletproof“, also im Wortsinn kugelsicher, ist das der Prototyp nicht und wird das die Serie auch nicht sein. BMW USA nutzte die Chance, um in einem Tweet ihre Sonderschutzfahrzeuge zu bewerben, weil die ja wirklich kugelsicher sind und wurde dafür umgehend von Tesla-Fans geröstet. Die Popcorn-Verkäufe stiegen Ende November sprunghaft an.

Ideal fürs Sommerloch

Für die Presse war dieses Event damit extrem ergiebig. Die einzige Kritik aus Pressesicht wäre die Verspätung, denn so einen Kaventsmann von „Vermischtes“-Material brauchen wir normalerweise am dringendsten im Sommerloch, für das die Präsentation des Tesla-Trucks ursprünglich angekündigt war. Für Tesla ist der Medienrummel gut. Für Tesla ist die Kritik bis auf das übliche Aktiengezappel egal. Trotz meiner beinahe krankhaften Deutschkorrektheit kann ich einen Fehler an einem Prototypen nicht wirklich schlimm finden. Es gibt genug Sorten Panzerglas, aus denen Tesla für die Serie auswählen könnte. Die Frage, die mich beschäftigt, ist aber eine andere: Warum sollten sie?

Es beschleicht nicht nur mich der Verdacht, dass Elon Musk hier einen Pickup-Truck präsentierte, der sich an Tesla-Fans richtet und nicht einen Tesla, der sich an Pickup-Fans richtet. Wie viele Tesla-Fans wollen wirklich sechs Meter lange, brutalistische Pickups? Vom „brauchen“ spreche ich absichtlich nicht. Die wirtschaftlich wichtigere Frage lautet aber: Wie viele Pickup-Fans wollen einen Tesla? Wer kann, wer will mit einem Cybertruck voller Farbeimer auf der Pritsche an der Baustelle vorfahren? Wenn eine ganze Fahrzeugklasse wie die der Pickups praktisch gleich aussieht, weiß der Marktanalyst schon, dass er es hier mit einer sehr konservativen Kundschaft zu tun hat.

Understanding Pickuppery

Um das Phänomen Pickup-Truck (kurz: „Truck“) überhaupt zu verstehen, müssen wir das Fahrzeug in seinem natürlichen Lebensraum beobachten: den USA. In Deutschland fahren Fans von US-Popkultur amerikanische Pickups als Liebhaberfahrzeuge, in die sie entsprechend viel Geld und Freizeit investieren. In den USA und Kanada dagegen fahren Bauern Pickup, Handwerker, Holzarbeiter und andere Bewohner des weitläufigen nordamerikanischen Hinterlands.

Es wird keinen Cybertruck für „unter 40.000 Dollar“ geben

Sie erhalten bei dieser Fahrzeugklasse nämlich eine komfortable Autokabine (je nach Bedarf mit zwei bis sechs Sitzen) plus eine Pritsche – quasi einen Familien-Pkw und ein Nfz in einem. Für dieses Two-in-One bezahlen sie den Preis einer großen Limousine. Ein Full-Size Pickup wie ein Ford F-150 kostet in den USA um die 30.000 Dollar, das liegt auf dem Niveau von Chevrolet Impala oder Chrysler 300.

Deshalb peilt Tesla 40.000 Dollar als Einstiegspreis für den Cybertruck an, zusammen mit hohen Werten für Zuladung und Zuglast. Das ist sehr günstig für ein so großes Auto mit einer so großen Batterie. Jeder Autofan dürfte mittlerweile mitbekommen haben, dass Teslas Ankündigungen nicht heißen: „Das werden wir wahrscheinlich hinbekommen.“, sondern sie heißen: „Das wünschen wir uns, obwohl es wahrscheinlich nicht passieren wird.“ Es gibt kein Model 3 (Test) für „unter 30.000 Dollar“, es gibt auch keins für den korrigierten Preis von 35.000 Dollar. Der Einstiegspreis liegt aktuell bei 39.490 Dollar (in Deutschland 44.390 Euro). Wenig gewagte These also: Es wird in den nächsten Jahren keinen Cybertruck für „unter 40.000 Dollar“ geben.

Kante zeigen

Aber wird es den Cybertruck überhaupt geben wie gezeigt? Die Frage stellt sich auch angesichts der scharfen Kanten. An scharfen Kanten wirbelt die Luft. Sie erzeugt dabei mehr Widerstand, was schlecht ist für die Reichweite. Die Widerstandsenergie wandelt sich unter anderem in Schalldruck um. Es wird laut bei schnellerer Fahrt. Das weiß Tesla. Tesla optimiert die Aerodynamik in aufwendigen Simulationen. Dass das Model 3 dann zum Beispiel doch nicht so leise ist, wie es sein sollte, liegt wahrscheinlich an den nicht (oder nicht in dieser Größe) simulierten Spalten.

Wenn Franz von Holzhausen sein Low-Poly-Count-Modell in den Simulator eingibt, erstrahlen die Bildausgaben in Warnfarben. Es gab gute Gründe, warum in den Neunzigern die Autos wieder runder wurden, nach langen Jahren kantiger US-Autos: CAD und Effizienzgedanken aus steigenden Ölpreisen. Elon Musk sagte, die Form sei der extrem zähen Stahllegierung geschuldet, die sich nicht für gewöhnliche Tiefziehpressen eigne. Passende Pressen bauen wollte Tesla aber auch nicht. Also die Form. Wenn das mit dem Stahl stimmt, wird sich dieses Modell schwertun beim Sicherheitstest.

Schutz von Fußgängern ...

Des Fußgängerschutzes wegen liegen heute üblicherweise zwei Lagen dünnes Blech in einigen Abstand als Sandwich-Haube über dem harten Motorblock. Alternativ kann ein Airbag die Motorhaube bei einer Kollision mit einem Fußgänger hochdrücken als Falldämpfung (siehe Volvo oder Mercedes). Auch in diesem Fall darf das Blech nicht besonders dick sein, sonst steigen die Restenergiewerte zu stark an. Die Front muss also einigermaßen weich sein. Kantig darf sie sein, wenn die Kanten weich sind.

Hoch darf sie auch ruhig sein. Eine hohe Motorhaube kann sogar vorteilhaft für Fußgänger sein, denn sie reduziert die Fallhöhe. Ameisenhalbierende Fronten wie an früheren Sportwagen sind heute kaum noch zulassungsfähig. Das moderne Sportauto trägt deshalb seine Schnauze deutlich höher als früher. Tesla könnte entweder eine weiche Plastiknase plus einen großen Fußgänger-Airbag unter der Scheibe bauen (wieder siehe Volvo) oder auf 5 NCAP-Sterne verzichten. Ich meine: Ein aktueller Jeep Wrangler (Test) hat auch nur einen Stern. Die Frage ist dann nur, welche Familien außerhalb der Prepper-Szene das kaufen.

... und vor der armen Umwelt

Vielleicht will Tesla am Ende wirklich kugelsicher bauen. Zum Design würde es passen. Doch wozu sollte die preisbewusste Truck-Kundschaft teure Sonderschutz-Features bezahlen? Stabiler beim gegen einen Stein fahren, ja, vorstellbar. Aber dass sich der Farmer jetzt so bedroht fühlt beim Heu zu den Pferden bringen, dass er erhebliches Mehrgeld in eine kugelsichere Kabine investiert? Das ist doch kein Massengeschäft. Das wäre ein Geschäft für einen Militärkontrakt, aber für den scheint das Auto nicht gebaut. Vielleicht gibt es am Ende doch eine Überschneidung mit den Käufern von BMW-Sonderschutzfahrzeugen in Südamerika. Vielleicht wollen das reichere Leute, um sich vor ärmeren Leuten zu schützen.

Musk gibt zu, dass ein kleinerer Pickup sinnvoll wäre

Der Cybertruck präsentiert sich als umweltfreundliche Alternative zur Pickup-Konkurrenz. Aus europäischer Sicht ist diese Aussage schwer fassbar. Der Cybertruck sieht aus wie ein russischer Luxuspanzer und benötigt entsprechende Ressourcen. Selbst Musk gibt zu, dass ein kleinerer Pickup mittelfristig sinnvoll wäre. Ganz ehrlich: Ich hoffe, Tesla konzentriert sich auf das Model Y und schiebt dieses Viech auf eine lange Bank, länger als ein Cybertruck-Heck. Ich hoffe, sie überlegen sich das Konzept noch einmal und gehen, rennen in die entgegengesetzte Richtung: weniger Show and Shine, mehr Nutzfahrzeug.

Der Markt ist groß

Handwerker brauchen Nutzfahrzeuge mit riesigen Batterien. Cleanes, gut alterndes Design? Immer her damit, Franz! Tesla könnte hier schwer punkten. Stattdessen kann sich Tesla nicht lösen vom ewigen Schwanzvergleich. Muss ein (halbes) Nutzfahrzeug schneller beschleunigen als ein Porsche 911? Brauchen wir mehr aggronesische Fahrzeugfronten im eh schon aggressiven Verkehr? Der Cybertruck legt nicht die Waffen beiseite, sondern er entzündet ein ganz neues Wettrüsten. Ford muss den nächsten F-150 schon mit einer Pritsche voller Rinderhälften verkaufen, um mit dem steinzeitlichen Brusttrommeln mithalten zu können. Ach, was rege ich mich auf? Mir langt‘s ja noch 'naus. Soll sich jeder Nordamerikaner noch einen Cybertruck neben seinen RAM 1500 stellen.

Tesla, Rivian, Piaggio

Zu Teslas Vorstellung liegt der Vergleich mit dem US-Konkurrenten Rivian R1T nahe, weil der ebenfalls batterielektrisch fährt. Er hat ein in jeder Wortbedeutung rundes Design, einen Motor pro Rad, sodass der Wagen wie ein Kettenfahrzeug auf der Stelle drehen kann und viele lustige Details. Von VWs T3 syncro DoKa hat sich Rivian zum Beispiel den „Safe“ abgeguckt, eine abschließbare Durchreiche vor/unter der Pritsche. Dort passt ein (kleines) Surfboard hinein oder eine Ausziehküche, die ich ähnlich schon am T3 gesehen habe. Das Auto soll ab knapp 70.000 Dollar kosten. Da tendiert der sparsame Farmer natürlich eher zu Tesla. Beim Erscheinen wird Teslas Truck jedoch wahrscheinlich in etwa dasselbe kosten müssen wie Rivians Angebot: gut ausgestattete Autos bringen gute Margen, die beide Hersteller benötigen.

Reden wir noch einmal über den Cybertruck, wenn aus den Wünschen harte (aber zum Wohle der Fußgänger hoffentlich nicht zu harte) Realität geworden ist. Zwischenzeitlich möchte ich den Blick auf Europa lenken. Wir haben eine eigene Pritschenwagen-Tradition, mit Pritschen, die an drei Seiten herunterklappbar sind zum einfacheren Beladen. Das hat sich aus irgendeinem Grund in den USA nie durchgesetzt.

Nützlich! Unter 30.000 Euro! Real!

Bei uns dagegen hat sich der „Full-Size Truck“ nie als Alltagsauto durchgesetzt, weil der bei uns Platzprobleme kriegt. Wir haben mittelalterliche Altstädte, in denen es selbst einem Fiat 500 (Test) eng wird. In welche Innenstädte soll der Europäer (typischerweise allein) mit einem 5,9 Meter langen Cybertruck fahren? Deshalb möchte ich den Blick auf ein zu Unrecht unterbeleuchtetes Auto lenken: den Piaggio Porter Electric Pickup. Es gibt ihn sogar als Kipper! 63 PS! 57 km/h! Unaggressives Äußeres! Nicht kugelsicher! Nützlich! Unter 30.000 Euro! Real!