Atommüll: Einblicke in das finnische Endlager Onkalo

Seite 2: In die Cloaca Maxima

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Die beste bislang bekannte Lösung besteht darin, die Abfälle zu vergraben. Die zu diesem Zweck gebauten Grabstätten werden auch geologische Tiefenlager genannt und sind die ­Cloaca Maxima – die große Kanalisation – unserer Spezies. In die Tiefenlager der unteren und mittleren Stufe kommen leicht radioaktive Materialien, die als Nebenprodukte von Atomkraft und Atomwaffen abfallen: Dinge, die nur für einige Jahre schädlich sind, Kleidung, Werkzeuge, Filtereinsätze, Reißver­schlüsse oder Knöpfe. Sie werden in Fässer gelegt und dann in den unterirdischen Silos von Lagern überall auf der Welt versenkt. Jede neue Schicht wird mit Beton ummantelt, damit die nächste ­darübergelegt werden kann. Die Waste Isolation Pilot Plant ­(Pilotanlage zur Endlagerung von Abfällen), kurz WIPP – ein Endlager der mittleren Stufe, das in einer Salzformation in New Mexico gebaut wurde –, soll 800.000 Trommeln aus Weichstahl mit einem Fassungsvermögen von je 208 Litern aufnehmen können. Sie enthalten die transuranischen Abfälle aus militärischer Produktion, darunter radioaktive Späne, die bei der Herstellung von Atomsprengköpfen angefallen sind. Die Trommelkammern der WIPP werden mit der Zeit als hochorganisierte akkurate Schichten neben dem Felsgestein aufragen – ein weiteres Taxon künftiger Fossilien aus dem Anthropozän.

Die gefährlichsten Abfälle indes – die giftigen, radioaktiven Brennstäbe aus den Reaktoren – brauchen ein noch sichereres Grab und eine spezielle Bestattung. Bislang gab es nur wenige Versuche, Endlager für solche hochradioaktiven Abfälle zu ­bauen. In Belgien wurde ein unterirdisches Testgelände eingerichtet, um Möglichkeiten künftiger Endlagerung zu erforschen, das den Namen HADES trägt. In den USA hat man versucht, im Yucca Mountain, einem erloschenen Supervulkan in der Wüste von Nevada, ein Endlager zu errichten, doch nach jahrelangen Streitereien und Protesten wurde der Bau gestoppt, sodass die in den Ignimbrit gegrabenen Höhlen derzeit leer ­stehen. Ein Grund für den Stopp des Projekts ist die Nähe des Yucca Mountain zu einem 270 Meter breiten Erdbebengebiet, der Sundance-Störung, die ihrerseits von der noch tieferen Ghost-Dance-Verwerfung unterwandert wird. Sollte der ­Yucca Mountain jemals in voller Kapazität befüllt werden, enthielte er laut John D'Agata "radioaktiven Abfall, der zwei Millionen Atomsprengungen entspräche und damit sieben Milliarden ­Dosen tödlicher Strahlung". Damit könnte jeder Mensch auf der Erde 350-mal getötet werden.

Das bei Weitem fortschrittlichste Endlager ist Onkalo, das Versteck, das in 450 Metern Tiefe in 1,9 Milliarden Jahre altem Gestein an der Küste der finnischen Bottensee liegt. Wenn die Grabkammern von Onkalo mit dem Abfall der drei Kraft­werke von Olkiluoto gefüllt sein werden, liegen hier 6.500 Tonnen ­abgebranntes Uran.

So endet die Welt, so endet die Welt, so endet die Welt – nicht mit einem Knall, sondern mit einem Besucherzentrum. "Herzlich willkommen auf Olkiluoto", sagt Pasi Tuohimaa. "Sie ­haben es geschafft!" Ich bin im Winter nach dem Sommer der großen Schmelze und dem Herbst der Gletschermühle nach Onkalo gekommen.

Der Empfangsbereich ist sauber und gut ausgestattet. Es gibt drei frei stehende Garderobenschränke, die mit hochauflösenden Bildern von Waldpanoramen verziert sind. Auf der Toi­lette wird man nicht mit Musik berieselt, sondern mit Vogelgesang. Die Besucher pinkeln zum Ruf von Spechtmeisen, vielleicht auch Waldbaumläufern.

Pasi geht mit mir nach draußen. Hinter dem Empfangs­bereich beginnt ein Bohlenweg, der über einige Stufen hinab zur Salzmarsch führt. Schilf sprödet im Wind. Das Meer ist gefroren, gelbe Eisplatten stapeln sich unter den Rohrkolben. In der Bucht verweht der Sturm die Konturen dreier Atomkraftwerke. Das dritte und am weitesten entfernte ähnelt einer Moschee: eine Kuppel aus Terrakotta, von der ein Minarett aufsteigt.

"Das dritte Kraftwerk ist noch in Bau", sagt Pasi. "Dauert aber nicht mehr lange."

Der Wind ist extrem kalt. Wir ziehen uns zurück, um die Szenerie durch Glas zu betrachten. Auf den breiten Panoramafenstern kleben Bilder von Greifvögeln, um Vogelschlag zu verhindern: stilisierte Falken und Habichte.

Der Blick auf die Bucht ist wunderbar mit Pressholz gerahmt. Wenn die Kraftwerke im Schneesturm verschwinden, könnte es auch ein Bild von Gallen-Kallela aus dem frühen 20. Jahrhundert sein.

Pasi zeigt mir die Dauerausstellung, in der die Lieferkette der Atomenergie vom Bergwerk bis zum Verbraucher erläutert wird. Der Besucher erfährt, dass die Strahlung nur dann eine Gefahr darstellt, wenn man nicht sachgerecht mit ihr umgeht.

"Die Leute glauben, Atommüll ist in alle Ewigkeit schädlich", sagt Pasi. "Ist er aber nicht! Nach fünfhundert Jahren können Sie sich ausgebranntes Uran ins Haus stellen."

Er breitet die Arme aus und wendet sich mir zu. "Vielleicht können Sie es sogar umarmen!"

Er hält inne, überlegt.

"Gut, Sie würden es vielleicht nicht unterm Bett lagern, aber im Wohnzimmer – kein Problem."

Wieder hält er inne.

"Küssen ist vielleicht nicht so gut, aber Umarmen geht."

Er klingt wie ein Vater, der seiner Tochter das Regelwerk für ihr Date erklärt.