Bildungsforscher: Warum die Grundlast der Lehre digital laufen sollte

Ernst Andreas Hartmann erforscht seit Jahren alle Facetten der mathematisch-naturwissenschaftlichen Ausbildung. Im TR-Interview erklärt er, was falsch läuft.

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(Bild: Gorodenkoff/Shutterstock.com)

Lesezeit: 8 Min.

Ernst Andreas Hartmann ist für TR-Leser kein Unbekannter: Vor zwölf Jahren sprach er bereits mit uns darüber, wie sich junge Menschen für technische und naturwissenschaftliche Themen begeistern lassen. Nun wirft er unter anderem einen Blick auf das digitale Lernen nach der Pandemie. Was kann der Bildungs- und MINT-Bereich aus den Erkenntnissen lernen und für die Zukunft weiterentwickeln?

Hartmann hat an einer Maschinenbaufakultät promoviert und in Arbeits- und Organisationspsychologie habilitiert. Heute lehrt er als Privatdozent für Arbeitssystem- und -prozessgestaltung an der RWTH Aachen und leitet den Bereich „Bildung und Wissenschaft“ des von ihm mitgegründeten „Instituts für Innovation und Technik“ in Berlin.

Über die Verbesserung der MINT-Ausbildung wird immer wieder diskutiert. Was hat sich seit unserem letzten Interview vor zwölf Jahren getan?

Es gibt zum Beispiel interessante neue Daten über den Frauenanteil in MINT-Studiengängen. Er ist negativ korreliert mit der Gender-Gerechtigkeit in der jeweiligen Gesellschaft.

Je gerechter die Gesellschaft, desto niedriger die Quote?

Genau. In skandinavischen Ländern zum Beispiel, in denen der Anteil von Frauen in Aufsichtsräten oder Parlamenten hoch ist, gibt es sehr niedrige – und fallende – Frauenquoten in MINT-Fächern. In arabischen Ländern hingegen extrem hohe.

Welche Erklärungen gibt es für diese Entwicklung?

Ernst Andreas Hartmann

(Bild: privat)

Eine Erklärung bezieht sich auf den ökonomischen Hintergrund. Eine Frau etwa aus Jordanien, die wirtschaftlich auf eigenen Beinen stehen will, wird eher ein naturwissenschaftlich-technisches Fach wählen, das ihr dies ermöglicht. Eine junge Schwedin weiß hingegen, dass sie in einem Wohlfahrtsstaat lebt und nicht verhungern wird, wenn sie etwa Literaturwissenschaft studiert, was sie eigentlich am liebsten möchte. Eine andere Erklärung bezieht sich auf die sogenannten intra-individuellen Stärkenprofile. In Finnland sind zum Beispiel die Mädchen besser in Mathe als die Jungs. In den Sprachen aber sind sie noch viel besser. Also machen sie lieber etwas mit Sprachen. Und der Witz ist, dass diese intra-individuellen Unterschiede mit wachsender Gender-Gerechtigkeit größer werden. Warum, weiß ich nicht. Wir wissen nur aus der Literatur, dass es so ist.

Muss man sich also mit einem sinkenden Frauenanteil in MINT-Fächern abfinden?

Man hat früher geglaubt, das Problem würde sich mit einer steigenden Chancengleichheit irgendwann auflösen. Das ist ganz offensichtlich nicht der Fall. Was aber nicht heißt, dass man nichts tun kann. Man kann zum Beispiel durch die didaktische und inhaltliche Gestaltung von Studiengängen einiges bewegen.

Haben sich junge Menschen dann tatsächlich für ein MINT-Studium entschlossen, werden sie oft zur Hälfte mit Prüfungen wieder rausgesiebt. Das muss sich eine Gesellschaft erstmal leisten können.

Bei der Ingenieursausbildung bin ich enttäuscht, da bewegt sich relativ wenig. Das hat auch etwas mit Fachkultur zu tun, besonders in Deutschland. Ich verweise da gerne nach Aalborg in Dänemark, die haben einen völlig anderen pädagogischen Ansatz: 50 Prozent der Kreditpunkte gibt es dort projektbasiert – was in Deutschland praktisch gar nicht vorkommt. In Aalborg steht eben nicht das Prüfen im Vordergrund, sondern dass die Leute hinterher etwas können.

Herrscht im Ingenieurswesen eine Art Machokultur? Wer durchkommt, hat gezeigt, was für ein harter Hund er ist?

Machismo erklärt nicht alles, aber spielt definitiv eine Rolle.

TR 4/2021

Würde sich die Lehre verbessern, wenn man mehr Geld hineinsteckt?

Das ist eine leicht vorgebrachte Forderung, der alle gerne zustimmen. Aber mit der Frage, wie sich die Effizienz der Lehre verbessern lässt, kann man sich leicht unbeliebt machen.

Was wäre denn solch ein Ansatz, die Effizienz zu verbessern?

Viele digitale Lehrangebote sind derzeit Notlösungen wegen der Pandemie. Durch Begleitforschung haben wir aber festgestellt, dass sie trotzdem ein großes Potenzial zur Qualitäts- und Effizienzverbesserung haben. Wir sollten das nach der Pandemie weiter pflegen. Da sind zum Beispiel die klassischen MOOCs – Massive Open Online Courses. Die sind eigentlich nichts besonders Aufregendes. Wenn sie schlecht gemacht sind, sind sie nichts anderes als elektrifizierte Vorlesungen, vielleicht noch mit ein paar eingebauten Übungen. Aber es funktioniert und hat in der Pandemie ganz viel gerettet.

Artikelserie "Schule digital II"

Wie sollte die Digitalisierung in unseren Schulen umgesetzt werden? Wie beeinflusst die Coronavirus-Pandemie das Geschehen? Was wurde im Schuljahr 2020/2021 erreicht - wie ging es 2021/2022 weiter? Das möchte unsere Artikelserie beleuchten.

Für die praktischen Teile der Ausbildung bringt das aber wenig.

Nun kommen langsam auch spannendere Entwicklungen in die Praxis: Virtuelle Fälle für Juristen, virtuelle Patienten für angehende Mediziner oder digitale Labore für die Natur- und Ingenieurwissenschaften. Da bekommen die Leute dann etwa elektronische Bauelemente mit nach Hause, wo sie Experimente am Küchentisch der WG machen können. Parallel dazu gibt es eine virtuelle Umgebung für weitere Experimente. Und das Schöne daran ist, dass ich bestimmte Dinge machen kann, die ich sonst nicht machen kann – zum Beispiel Laserschweißen lernen, ohne reihenweise teure Werkstücke zu versemmeln. Natürlich kommen die Studierenden irgendwann auch an echte Laserschweißgeräte, aber dann haben sie schon eine gewisse Vorkenntnis. Ein anderes Beispiel ist der sogenannte „digitale Drilling“ – wie der „digitale Zwilling“ ein Abbild realer Maschinen oder Fabriken, der in diesem Fall aber dazu dient, mit den Anlagen zu üben oder Aufgaben zu lösen.

Wird es nicht noch stärker zur Vereinzelung führen, wenn sich alle nur noch zu Hause durch Simulationen klicken?

In der Pandemie war diese Vereinzelung ja genau das, was man wollte. Aber ist es möglich, den sozialen Charakter des Studiums nicht nur zu erhalten, sondern auch weiterzuentwickeln? Die Modelle dafür könnten ganz anders aussehen als bisher. Ich würde die teuren Professorenstunden zum Beispiel nicht dafür verwenden, in jedem Semester die gleichen Vorlesungen zu halten, sondern etwa zur Betreuung von Projekten nutzen. Die Grundlast der Lehre kann sehr viel über digitale Systeme laufen. Bei der Weiterbildung von Berufstätigen galt schon immer: Präsenz nur dort, wo es einen Mehrwert bringt. Und das wäre auch für die Post-Corona-Zeit eine gute Regel.

Die Lehre wird ja oft ohnehin nicht von hoch bezahlten Professoren betrieben, sondern nach unten delegiert.

Es gab ganz viele Versuche, daran etwas zu ändern, zum Beispiel durch Preise für eine gute Lehre. Sie haben alle ihre Berechtigung, aber sie werden diese Kultur nicht grundsätzlich verändern. In der vordigitalen Zeit war es völlig unsexy, sich irgendwie mit Didaktik zu beschäftigen. Das war das Irrelevanteste, was sich Fahrzeugtechniker, Thermodynamiker oder Informatiker vorstellen konnten. Und es wird immer Leute geben, die für die Lehre einfach nicht geboren sind.

Warum sollte sich dieses Problem mit digitalen Formaten auflösen? Auch die müssen ja von jemandem mit einer gewissen Liebe zur Lehre geschaffen werden.

Aber die Leute mit der Liebe zur Lehre können auch in hochschulübergreifenden Service-Centern sitzen, wo sie beispielsweise digitale Lernplattformen bauen. Solche Center sind in der letzten Zeit sehr viel besser geworden. Dort sitzen Profis mit viel mediendidaktischem Feingefühl und keine befristet beschäftigten wissenschaftlichen Mitarbeiter, die eigentlich ganz woanders hinwollen. Die Experten braucht man natürlich auch, für den fachlichen Input. Aber wenn hochprofessionelle Leute ihnen helfen, gute Lehrangebote zu machen, dann packt das viele Leute. Smarte Systeme etwa für die Grundlagenausbildung in der Thermodynamik sind wieder interessant für die Zielgruppe, weil sie dann in ihrer technischen Kompetenz gefordert ist. Leider gibt es ganz absurde Berechnungsmodelle, nach denen sich die Beteiligung an digitalen Lehrsystemen überhaupt nicht lohnt, weil sie nur zu einem winzigen Bruchteil auf das Lehrdeputat einzahlt. Das ist ein Bereich, wo noch viel getan werden muss.

(bsc)