COVID-19: Warum der Winter die Pandemie verschlimmert

Bei niedrigeren Temperaturen und längeren Aufenthalten in geschlossenen Räumen hilft nur noch Lüften – oder bessere Filter.

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Das hilft sicher wenig.

(Bild: Photo by cottonbro from Pexels)

Lesezeit: 17 Min.
Von
  • David H. Freedman
Inhaltsverzeichnis

Seit dem Herbstbeginn auf der nördlichen Halbkugel wütet das Coronavirus, Deutschland und viele andere Länder befinden sich erneut im (Teil-)Lockdown. Dabei geben zwei Fakten besonders Anlass zur Beunruhigung, wie Forscher warnen.

Zum einen ist die saisonale Grippe – eine Atemwegserkrankung, die COVID-19 durchaus ähnlich ist – weitaus aktiver im Winter. Beispiel USA: Im letzten Jahr gab es dort in Herbst und Winter vierzig Mal so viele Grippe-Fälle wie im vorangegangenen Frühling und Sommer.

Historisch gesehen kommt es in den kühleren Monaten zu zehn Mal so vielen Grippeinfektionen wie in temperaturgemäßigten Regionen. (In tropischen Gebieten kommt die Influenza-Welle meist in der Regenzeit, wenn auch oft weniger heftig.) Zum anderen gab es in den Vereinigten Staaten bei der Spanischen Grippe 1918 fünfmal mehr Tote im Herbst und Winter als im Sommer. Es war eine der tödlichsten Pandemien der Weltgeschichte – die einzige, bei der bislang mehr Amerikaner gestorben sind als bei der aktuellen.

Sollte die COVID-19-Pandemie diesem Muster folgen und in den Infektionszahlen Richtung Winter massiv hochgehen, könnte das im Ergebnis allein in den USA 300.000 weitere Todesfälle bedeuten, zusätzlich zu den schon über 200.000 Verstorbenen. Das würde der Spanischen Grippe von 1918 und der vierfachen Todesrate des Sommers sogar nur gemäßigt entsprechen. Wie wahrscheinlich ist das?

"Wir wissen noch nicht genug über das Virus", sagt Michael Osterholm, Direktor beim Center for Infectious Disease Research and Policy an der University of Minnesota. Osterholm merkt an, dass einige der Schlüsselvariablen sich bislang einer wissenschaftlichen Analyse und Prognose entziehen. Denn es ist schwierig zu kalkulieren, wie die von der Politik beschlossenen Maßnahmen sich verändern werden, ob die Öffentlichkeit sich an die Richtlinien halten wird, wann es einen Impfstoff gibt und wie effektiv und akzeptiert dieser wäre.

Trotzdem versuchen Forscher sich ein Bild davon zu machen, wie sich die Pandemie in diesem Winter wahrscheinlich verhalten wird. Dafür ziehen sie Laborstudien zu Rate und bedienen sich einer rasant wachsenden Menge an epidemiologischen Daten. Mittlerweile wird besser verstanden, wie niedrige Temperaturen und Luftfeuchtigkeit das Virus beeinflussen und wie sich unterschiedliche Bedingungen in geschlossenen Räumen auf die Ansteckung auswirken.

Die Ergebnisse machen wenig Mut. "All die Faktoren, die wir mit kaltem Wetter assoziieren, scheinen die Virusverbreitung möglicherweise zu beschleunigen", sagt Richard Neher, Bioinformatiker an der Universität Basel, der derzeit an Simulationen arbeitet, die zeigen, wie das Coronavirus sich in einem Raum verteilt. Die gute Nachricht ist, dass diese Forschung auch verdeutlicht, welche Schritte jeder Einzelne und jede Organisation einleiten könnte, um die Ansteckung unter diesen Witterungsbedingungen zu verlangsamen. Doch ob genug Menschen diesen Maßgaben folgen werden und ob das ausreicht, eine riesige zweite Welle zu verhindern, ist alles andere als sicher.

Eigentlich ist es untypisch für eine neuartige, virale Atemwegserkrankung, dass sie in Form als zweite Welle im Winter weitergeht. Bei allen zehn respiratorischen Pandemien der letzten 250 Jahre lagen sechs Monate zwischen der ersten und zweiten Welle, aber nur drei davon erfolgten im Winter. Die Spanische Grippe im Jahr 1918 war eine dieser Ausnahmen. Wird COVID-19 nun eine weitere?

Das bleibt schwer zu sagen. Forscher hatten gehofft, dass sich im Laufe der Monate wetterbedingte Ausbreitungsmuster zeigen würden. Es war ja früher Winter, als die Krankheit Ende 2019 zum ersten Mal in China ausbrach. Daher gibt es mittlerweile detaillierte Daten dazu, wie sich das Virus in drei Jahreszeiten sowohl in gemäßigten als auch in tropischen Klimazonen verhält. Man weiß, wie der Corona-Sommer auf der Nordhalbkugel ablief und der Winter in der südlichen Hemisphäre.

Doch ein Muster ließ sich bislang nicht erkennen. Im Gegenteil: Im März haben die Infektionen sich im nördlichen Italien weit verbreitet, als die Temperaturen bereits über 20 Grad hatten. In einigen US-Städten, wie zum Beispiel Boston, kam es zu Höchstwerten, als die Temperaturen unter 10 Grad fielen und in wiederum anderen, etwa Houston, passierte das gleiche bei über 32 Grad. Südafrika und Australien gehören zu Nationen der südlichen Hemisphäre, wo es zu hohen Zahlen während des Winters kam, während die USA zu den nördlichen Ländern zählt mit Sommerwellen. Und auch wenn die Wissenschaft darin übereinstimmt, dass ein tropisches Klima die Virusausbreitung tendenziell ausbremst, gibt es einige Länder in tropischen Regionen, darunter Indien und Brasilien, die schwere Verläufe feststellen mussten.

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Es würde helfen, wenn es in der Wissenschaft ein fundiertes, nachgewiesenes Verständnis davon gäbe, warum die sogenannte saisonale Grippe tatsächlich saisonal ist. Aber dieses Wissen gibt es nicht. Linsey Marr ist Umweltwissenschaftlerin an der Virginia Tech und untersucht Virentransmission. Sie merkt an, dass das Grippevirus immer erst dann am härtesten im Winter zuzuschlagen scheint, wenn es endemisch geworden ist – das bedeutet, dass es Jahr für Jahr weiterhin zirkuliert. Das legt nahe, dass die Saisonalität etwas damit zu tun haben könnte, dass eine temporäre Immunität gegenüber bestimmten Virusstämmen innerhalb der Bevölkerung aufgebaut wird. "Diese Saisonalität erkennt man dann unter neuen Viren einfach nicht", sagt sie.

Selbst wenn COVID-19 im ersten Jahr eine gewisse Saisonalität zeigen sollte, werden andere Faktoren in der Ausbreitung eine viel größere Rolle spielen – es wird viel mehr darum gehen, ob Menschen sich an Kontaktbeschränkungen halten, Masken tragen, und Versammlungen in geschlossenen Räumen meiden. Dass diese Dinge versäumt werden, könnte erklären, weshalb die Infektionsraten in weiten Teilen der USA auch bei warmem Sommerwetter so in die Höhe geschossen sind, obwohl eigentlich erwartet wurde, dass sie heruntergehen. "Das bedeutet nicht, dass das Virus nicht wetterempfindlich ist", erklärt Benjamin Zaitchik, Klimaforscher an der Johns Hopkins University, der die Muster der Corona-Übertragungen studiert. "Es könnte sein, dass dieser Effekt aufgrund der Richtlinien und je nach Verhalten nur nicht erkannt wird."