Der Alptraum von Fukushima

Seite 3: Brodelnde Abklingbecken

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Brodelnde Abklingbecken in den Reaktorruinen

Am Dienstag morgen macht auch erstmals der vor dem Beben heruntergefahrene Block 4 Probleme: Dort kommt es um 6:00 Uhr Ortszeit zu einer Explosion in der Halle mit den Abklingbecken. Diese befinden sich in Fukushima I in der oberen Etage der Reaktorhäuser, da Siedewasserreaktoren nur von oben be- und entladen werden können (siehe Grafik) – was auch bedeutet, dass sie in den teilweise zerstörten Reaktorhäusern von Block 1 und 3 inzwischen freiliegen. Die Explosion führt zu einem Brand, der zwar gelöscht werden kann, doch das Wasser in den Abklingbecken hat nach Angaben der Nachrichtenagentur Kyodo News am Dienstag Nachmittag den Siedepunkt erreicht.

Schematischer Aufbau eines GE Mark 1-Reaktors. Die Abklingbecken befinden sich oberhalb des Containments.

Block 4 war erst kurz vor der Katastrophe planmäßig für eine Inspektion herunter gefahren worden. Sämtliche Brennelemente dieses Blocks sind in das Abklingbecken oberhalb des Reaktors umgeladen worden. Das japanische Nuclear Energy Institute (NEI) hat in einem Hintergrundpapier Fakten zur Lagerung abgebrannter Brennelemente auf der Reaktorgelände veröffentlicht.

Aus dem Papier geht nicht eindeutig hervor, wie viele Brennelemente sich im Becken von Block 4 befinden – dennoch hilft es bei der Einschätzung der Gefahrenlage ein wenig weiter: Laut NEI ist das Becken von Block 4 nämlich das einzige, das voll beladen ist. "All Things Nuclear", der Blog der "Union of Concerned Scientists" hat zudem aus japanischen Medienberichten mittlerweile eine Übersicht über den Kernbrennstoff-Bestand im gesamten AKW zusammengestellt. Demnach sind die Reaktoren mit Gebinden aus jeweils 60 Brennstäben beladen, die insgesamt 170 Kilogramm Uran pro Gebinde enthalten - in Summe befinden sich also allein in den Lagerbecken rund 800 Tonnen Uran. Laut New York Times sind 32 der 514 Gebinde in Block 3 zudem mit MOX-Brennelementen beladen, die mehr Plutonium enthalten als gewöhnliche Brennelemente. Wie viele MOX-Elemente sich im Reaktor selbst befinden, ist zur Zeit noch unklar.

  1. Block: 400 Gebinde im Reaktor, 292 im Pool
  2. Block: 548 Gebinde im Reaktor, 587 im Pool
  3. Block: 548 Gebinde im Reaktor, 514 im Pool
  4. Block: 0 Gebinde im Reaktor, 1479 im Pool
  5. Block: 418 Gebinde im Reaktor, 946 im Pool
  6. Block: 634 Gebinde im Reaktor, 867 im Pool

Die anderen rund 60 Prozent des abgebrannten Kernbrennstoffs auf dem Gelände von Fukushima Daiichi befinden sich im Becken eines gemeinsamen Zwischenlagers auf dem Gelände. Nach Schätzungen des französischen Institut de Radioprotection et de Sûreté Nucléaire (IRSN) sind das rund 6200 Brennelement-Gebinde in einem gemeinsamen Zwischenlagerbecken. Die Brennelemente sind laut IRSN schon länger abgeklungen als die Brennelemente in den Becken der sechs Reaktorblöcke und produzieren deshalb eine geringere Nachwärme. Angaben über den Zustand der Kühlung des Zwischenlagers liegen allerdings nicht vor.

34 Prozent der abgebrannten Brennelemente sind auf die Abklingbecken der Reaktorblöcke verteilt – der Löwenanteil davon in Block 4. Der Wasserstand in den Becken ist normalerweise so eingestellt, dass die Stäbe rund 4,5 Meter - andere Quellen sprechen von sieben bis acht Meter - hoch mit Wasser bedeckt sind. Die Pools in Block 2, 3, 4, und 5 haben ein Volumen von 1425 Kubikmeter - das Becken von Block 1 ist mit 1020 Kubikmetern etwas kleiner, das von Block 6 mit 1497 Kubikmetern etwas größer, als die anderen.

Jedes Becken fasst maximal etwa 1300-1400 Tonnen Wasser, wobei etwa 500 Tonnen notwendig sind, um die Brennstäbe vollständig zu bedecken. Laut MIT hat das Wasser in solchen Abklingbecken unter normalen Bedingungen eine Temperatur von 30-40 Grad Celsius. Diese Temperatur wurde aber zwischenzeitlich in Block 4 weit überschritten, weil der Wasserstand weit unter diese Marke gerutscht ist. Wenn das Wasser zu kochen beginnt, kann man abschätzen, dass rund drei Tonnen pro Stunde verdampfen - das entspricht rund 70 Tonnen Wasser pro Tag, die nachgefüllt werden müssen. Nach verschiedenen Presseberichten sind in den ersten Tagen jedoch nur rund 50 Tonnen Wasser über Block 3 abgeworfen worden. Am 20. und 21. März gelang es den Rettungskräften jedoch 1137 Tonnen Meerwasser in Richtung des Pools von Block 3 und 90 Tonnen in Pool 4 zu pumpen. Wieviel davon jeweils in das Becken gelangt ist, ist jedoch nicht bekannt.

Auch in Block 5 und 6 sind die Temperaturen zeitweise zu hoch gestiegen:

Block 4 Block 5 Block 6
14.3., 19:08 JST 84,0 °C 59,7 °C 58,0 °C
15.3., 19:00 JST Keine Daten 60,4 °C 58,5 °C
16.3., 14:00 JST Keine Daten 62,7 °C 60,0 °C
17.3., 12:00 JST Keine Daten 64,2 °C 62,5 °C
18.3., 13:00 JST Keine Daten 66,3 °C 64,0 °C
19.3., 18:00 JST Keine Daten 48,1 °C 67 °C
20.3., 16:00 JST Keine Daten 35,1 °C 28 °C
21.3., 17:00 JST Keine Daten 42,3 °C 36,5 °C
22.3., 17:00 JST Keine Daten 33,5 °C 27,5 °C
23.3., 18:00 JST Keine Daten 41,1 °C 19,0 °C
24.3., 17:00 JST Keine Daten 49,0 °C 28,5 °C
25.3., 18:00 JST Keine Daten 37,9 °C 22,0 °C
26.3., 14:00 JST Keine Daten 42,8 °C 30,0 °C
27.3., 14:00 JST Keine Daten 37,8 °C 21,0 °C

Die Ursache für den sinkenden Wasserspiegel in den Abklingbecken ist zur Zeit noch unklar. Die UCS verweist jedoch auf eine interessante, konstruktionsbedingte Fehlerquelle. Demnach sind die Becken so konstruiert, dass man die Brennelemente bei einer Revision nicht aus dem Wasser heben muss, um sie aus dem Reaktorkern in das Abklingbecken umzuladen. Vielmehr wird dazu eine Art Spundwand zwischen Reaktorkern und Abklingbecken heruntergefahren und der gesamte Bereich geflutet.

(Bild: UCS)

Nachdem die Brennstäbe umgeladen sind, wird die Wand wieder hochgefahren. Abgedichtet wird dieses technische Wunderwerk von mit Luft aufgepumpten Dichtungen, deren Druck mit Hilfe elektrischer Pumpen aufrecht erhalten wird. Das Versagen der Stromversorgung könnte also auch zu einem langsamen Versagen der Dichtungen im Abklingbecken geführt haben.

Wenn die Brennstäbe größtenteils nicht mehr von Wasser bedeckt sind, heizen sie sich stark auf, da die Luft nicht genügend Wärmeenergie abtransportieren kann. Dabei kann es dann auch in den Abklingbecken zu einer Oxidation der Zircaloy-Hüllen kommen – auch bei dieser Reaktion wird explosiver Wasserstoff produziert. Ein völliges Schmelzen der Brennstäbe sei aber „sehr unwahrscheinlich“, da die Brennstäbe wesentlich weniger dicht als im Reaktor gepackt wären, so die MIT-Forscher. Mit sinkendem Wasserspiegel würde jedoch auch die Strahlenbelastung stark ansteigen.

Seit Donnerstag, dem 24.3. gibt es zumindest wieder Temperatur-Messwerte aus den Abklingbecken der Reaktoren 5 und 6. Dort betragen die Temperaturen 49 beziehungsweise 28 Grad Celsius. Auch die Kühlung des gemeinsamen Zwischenlagerbeckens ist provisorisch wieder hergestellt. Das Wasser in den Zwischenlagerbecken von Block 1,2 und 3 scheint jedoch immer wieder zu kochen - jedenfalls berichten japanische Medien von weißem Rauch, der aufsteigt - dabei könnte es sich um Wasserdampf handeln.

Nachbeben und schwierige Aufräumarbeiten

Während der Betreiber in den folgenden Tagen versucht, durch Meldungen über die schrittweise Wiederherstellung der externen Stromversorgung Optimismus zu verbreiten, gibt es auf dem Gelände neue Schwierigkeiten: Am 25.3. müssen die Arbeiten in den Blöcken 1 und 2 zeitweilig unterbrochen werden, da in den Untergeschossen stark radioaktives Wasser gefunden wird. Obwohl das Wasser abgepumpt wird, sammelt sich in Block 2 immer mehr der mit rund 1000 Millisievert pro Stunde strahlenden Brühe. Die Nuclear Safety Commission of Japan (NSC) vermutet, dass dieses Wasser „direkten Kontakt zu geschmolzenem Kernbrennstoff“ hatte und „über einen noch unbekannten Pfad in das Maschinenhaus“ ausgetreten ist. Am 2. April bestätigt TEPCO, dass stark kontaminiertes Wasser aus einem Riss in Block 2 direkt ins Meer fließt. Die TEPCO-Techniker versuchen, den Riss im Betonfundament mit Wasserglas zu flicken - doch der Versuch gelingt erst am 6. April.

Am 6. April um 23 Uhr 32 ereignet sich unterdessen ein schweres Nachbeben mit einer Stärke von 7,1. Die Betreibergesellschaft TEPCO erklärt, das Beben habe "keine neuen Probleme" in den Blöcken 1 bis 6 von Fukushima I verursacht. Auch ein zweites Nachbeben am Samstag, den 9.4. verschlimmert nach offiziellen Angaben die Lage nicht weiter. Eine Woche später bebt die Erde erneut mit Stärke 7 - diesmal ist das Epizentrum an Land. Statistisch ist damit zu rechnen, dass insgesamt etwa zehn Nachbeben dieser Stärke auftreten können.

Verschiedene Experten schließen denn auch nicht aus, dass ein oder mehrere Druckbehälter doch noch bersten könnten, denn sie sind in den vergangenen Wochen massiven mechanischen Belastungen ausgesetzt gewesen, die ihre Auslegung weit übersteigt. In den Reaktordruckbehälter herrscht noch immer ein Druck von einigen bar, die Oberfläche ist siedendheiß und die Brennstäbe liegen noch immer zum Teil frei - und das wird sich auch in den kommenden Wochen und Monaten nur ganz langsam ändern.

Das zeigen auch die Einschätzungen der Betreibergesellschaft: Offenbar auf Druck der japanischen Regierung hat TEPCO am 17. April eine Art Roadmap für den Verlauf der weiteren Arbeiten veröffentlicht: Demnach werde es noch mindestens sechs Monate dauern, bis die Blöcke 1-3 sich in einem stabilen, ausgeschalteten Zustand (cold shutdown) befinden. Die ersten drei Monate werden nach Einschätzung von TEPCO notwendig sein, um die Notkühlung der Reaktoren abzusichern und das Ausmaß der weiteren Freisetzung radioaktiver Materialien zu reduzieren.

Zudem wird immer klarer, dass die radioaktive Belastung der Umgebung sehr viel stärker ist, als zunächst angenommen. Am 12. April 2011 - nur knapp zwei Wochen vor dem 25. Jahrestag des Tschernobyl-Unfalls - stuft die japanische Regierung Fukushima als Unfall der Stufe 7 auf der internationalen INES-Skala ein. Nach Schätzungen von japanischen Experten sind seit dem Unfall zwischen 370.000 und 630.000 Terabequerel an radioaktivem Material in die Umgebung gelangt. Die neue Einstufung sorgte prompt für allerlei Diskussionen - sie orientiert sich jedoch lediglich daran, dass die INES-Skala eine Beurteilung sowohl nach dem Schaden an kritischen Systemen als auch nach der freigesetzten Aktivität erlaubt. Am 21. April erklärt die japanische Regierung die 20-km-Evakuierungszone um Fukushima zum permanenten Sperrgebiet.

Die Aufräumarbeiten im zerstörten Atomkraftwerk Fukushima gehen nur langsam voran. Große Mengen an hoch kontaminiertem Wasser, das sich in den Sicherheitsbehältern der Reaktorblöcke 1-3 angesammelt hat, behindern auch weiterhin die Sicherungs- und Reparaturarbeiten. Zwar konnte Tepco das Abfließen von kontaminiertem Wasser ins Meer aus Blcok 2 am 6. April stoppen Nach einem Bericht, den TEPCO bei der Aufsichtsbehörde NISA eingereicht hatte, sind dabei aber radioaktive Stoffe mit einer Aktivität von rund 4,5 1015 Bequerel in die Umgebung gelangt.

TEPCO hat nach eigenen Angaben mittlerweile rund 1700 Tonnen verseuchtes Wasser aus Block 2 abgepumpt. Laut Gesellschaft für Reaktorsicherheit sollen sich aber in den Reaktorgebäuden insgesamt schätzungsweise rund 87.500 Tonnen belastetes Wasser angesammelt haben. Anfang Mai soll eine Aufbereitungsanlage installiert werden, mit der ab Juni dann täglich 1200 Tonnen des radioaktiven Wasser aufbereitet werden können.

Die Lage an den beschädigten Reaktorblöcken selbst bleibt unterdessen Ende April - vorerst - stabil: Alle drei Reaktordruckbehälter werden mittlerweile kontinuierlich mit Frischwasser bespeist. In Block 1, der den Tepco-Ingenieuren zur Zeit am meisten Kopfzerbrechen bereitet, hat man in den vergangenen Tagen systematisch den Frischwasserzustrom herauf- und wieder heruntergefahren, um aus den Druck- und Temperaturänderungen auf die Funktionsfähigkeit der noch verbliebenen Messinstrumente schließen zu können. Eine abschließende Analyse steht aber noch aus - nach den letzten, veröffentlichten Messwerten beträgt der Druck in Block 1 zwischen 5 und 12 bar, während er in den Blöcken 2 und 3 sehr viel niedriger ist.
In allen drei Blöcken bildet sich durch Radiolyse zudem immer noch Wasserstoff, der sich in den Sicherheitsbehältern anreichert. Block 1 wird deshalb seit Anfang April mit Stickstoff geflutet - bei Block 2 und 3 ist die Einleitung von Stickstoff geplant, aber noch nicht durchgeführt.

Eine Neubewertung der gemessenen Dosisleistungen der Containmentüberwachung ergibt einen Kernschadensanteil von 55 Prozent statt den zuvor vermuteten 70 Prozent. Experten gehen dennoch davon aus, dass die Kernschmelze die Kühlung erheblich erschwert. Für eine dauerhaftere Kühlung müsste der Wasserpegel im Reaktordruckbehälter, der nach den letzten veröffentlichten Daten immer noch 1,7 Meter unter der Oberkante der Brennelemente liegt, weiter erhöht werden. Das könnte aber neue Risse im Reaktor erzeugen.

Unterdessen berichtet die japanische Tageszeitung Nikkei, dass Betreiber Tepco Anfang Mai drei zusätzliche Roboter in die beschädigten Blöcke schicken will. Am 17, und 18. April hatte das Unternehmen bereits einen ersten Anlauf unternommen, und zwei Packbot 510-Modelle des US-Herstellers iRobot zur Inspektion in Block 1, 2 und 3 geschickt. Dort maßen die Roboter Dosisleistungen zwischen 10 und 57 Millisievert pro Stunde - in Block 2 mussten die Roboter allerdings wieder abdrehen, weil zuviel Dampf die Kameralinse beschlagen hatte. Nun sollen laut Nike zwei Talon-Roboter der britischen Rüstungsschmiede Quinetiq und ein in Japan entwickeltes Modell namens Quince zum Einsatz kommen. Die Roboter sollen vor allem stark radioaktive Trümmer aufspüren und kartographieren. Laut World Nuclear News sind bislang vor allem in der Nähe von Block 3 Trümmerstücke gefunden worden, die mit bis zu 300 Millisievert pro Stunde strahlen.

Schema der teilweisen Kernschmelze im Reaktordruckbehälter des AKW Three Mile Island 1979.

(Bild: Nuclear Regulatory Commission)

Angesichts des 25. Jahrestags der Tschernobyl-Katastrophe hat der Vergleich mit dem damaligen Super-GAU bereits Mitte März schnell die Runde gemacht. Die bisherigen Ereignisse weisen aber mehr Gemeinsamkeiten mit dem auf, was 1979 im Kernkraftwerk Three Mile Island in Harrisburg passiert ist: Dort konnte die teilweise Kernschmelze schließlich gestoppt werden - ein Großteil des hochradioaktiven Inventars konnte im Containment zurückgehalten werden. Denn dort kam es dort nicht zu einer Wasserstoffexplosion, weil das Gas im Sicherheitsbehälter eingeschlossen blieb, dort aber nicht genug Sauerstoff für eine Explosion vorhanden war. Bis das ganze Ausmaß des Schadens analysiert werden sollte, dauerte es jedoch auch damals schon über ein Jahr. Auch Fukushima Daiichi wird die Welt noch Monate in Atem halten.