Die Kondensation des Wissens

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Aber bisher funktioniert sie. Warum? Sicherlich nicht, weil im Netz plötzlich nur noch Gutmenschen unterwegs wären. Wie auch auf anderen öffentlichen Webseiten wird in der Wikipedia munter gespammt, gehoaxt und getrollt. Der wesentliche Unterschied ist, dass sich Vandalismus in der Wikipedia kaum lohnt. Jede Entstellung kann von aufmerksamen Lesern umgehend wieder revidiert werden. Ein Forscherteam von MIT und IBM hat die englische Wikipedia systematisch observiert und dabei festgestellt, dass die Hälfte aller massiven Löschungen, einem klassischen Vandalenakt, nach knapp drei Minuten behoben waren. Wenn anstelle des gelöschten Texts noch Obszönitäten platziert wurden, sank die mittlere Reparaturzeit unter zwei Minuten.

DER CHARME BESTEHT IN DER EINFACHHEIT

Das derzeit spannendste Wissensprojekt der Netzwelt wurde ausgerechnet zur Zeit des großen Dot-com-Massensterbens geboren, und zwar selbst als Kind eines Fehlschlags. Im Januar 2000 kam der Kalifornier Jim Wales, reicher Börsenspekulant und Internet-Unternehmer, auf die Idee, eine Online-Enzyklopädie in verteilter Arbeit schreiben zu lassen. Als Chefredakteur warb Wales den promovierten Philosophen Lawrence Sanger an, der wiederum bei dem Programmierer Ward Cunningham die so genannte Wiki-Software besorgte -- ein Werkzeug, dessen Charme in seiner Einfachheit liegt. Jeder Nutzer kann damit eine Datenbank auf einem zentralen Serverrechner beliebig einsehen und verändern, ohne dafür auf seinem eigenen Rechner ein Programm installieren zu müssen. Cunningham hatte die erste Wiki-Site 1995 hochgefahren, um sich mit Kollegen über wiederkehrende Software- Muster auszutauschen.

Innerhalb einer Woche hatte Sanger die "Nupedia" auf die Beine gestellt: eine im Prinzip offene und freie Enzyklopädie –- allerdings nach klassischer Manier rigoros begutachtet. Autoren mussten sich mit Lebenslauf bewerben und ihre Texte gründlicher Bearbeitung unterwerfen. Zu wenige Schreiber nahmen diese Prozedur auf sich. Nach drei Jahren bot die Nupedia nur 30 Artikel auf. Sie starb den stillen Tod - und ihr kleines Anhängsel Wikipedia gedieh. Ursprünglich nur als "Durchlauferhitzer" für Nupedia-Texte gedacht, bot sie völlig schrankenlosen Zugang.

Bis vor gut einem Jahr blühte die Wikipedia eher im Verborgenen. Dann, im Frühjahr 2004, kam plötzlich der große Hype. Die Massenmedien entdeckten das Projekt und beschlossen, es großartig zu finden. In Deutschland berichteten unter anderem "Der Spiegel" und die "Tagesthemen". Im Mai 2004 bekam die Wikipedia zudem zwei renommierte Auszeichnungen: den Prix Ars Electronica und den Webby Award.