Die Kondensation des Wissens

Seite 5: Die Kondensation des Wissens

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WIKIPEDIA ALS ÖFFENTLICHE BEDÜRFNISANSTALT

Erklärte Absicht von Wales und seinen Wikipedianern ist, die kommerziellen Enzyklopädien zu übertrumpfen, und nach den bloßen Zahlen ist dieses Ziel erreicht. Die Wikipedia enthält mehr Artikel als Brockhaus und Encyclopedia Britannica zusammen. Aber wenn deren Vertreter die Hobbybescheidwisser fürchten, lassen sie es sich nicht anmerken. Zwar nutzt Brockhaus-Sprecher Klaus Holoch die Wikipedia privat gern als "nette Informationsquelle", aber als Konkurrenz nimmt er sie nicht ernst: "Wir gehen auf Qualität statt auf Masse."

Ungehaltener ist der Ton, den man in der Britannica- Redaktion gegen die Wikipedia anschlägt. "Die Annahme der Wikipedia ist, dass stetige Verbesserung zur Perfektion führt, und das ist völlig unbewiesen", schnaubte Britannica-Herausgeber Ted Pappas, und sein früherer Kollege Robert McHenry verglich die Do-it-yourself- Konkurrenz in einem letztjährigen Online-Kommentar mit einer "öffentlichen Bedürfnisanstalt": Man könne nie wissen, wer sie vorher benutzt hat. Konkret bekrittelte er Formulierungsschwächen und Widersprüche zum Geburtsjahr im Wikipedia-Eintrag zum US-Verfassungsjuristen Alexander Hamilton -- und lieferte damit ein unfreiwilliges Musterbeispiel für die Funktion der Wikipedia. McHenrys Kritik war am 15. 11. 2004 online. Tags darauf waren die betreffenden Schwachstellen in der Wikipedia behoben.

ABSEITIGE THEMEN WERDEN BREITGETRETEN

Der Name "Wiki" kommt vom hawaiianischen Adjektiv für Schnelligkeit -- und trifft damit genau die Stärke der Wikipedia. Als Papst Karol Wojtyla am 2. April um 21 Uhr 37 starb, dauerte es keine halbe Stunde, bis sein Todesdatum in der deutschen Wikipedia verzeichnet war. Mit der schnellen Absorption eines Ereignisses ist es freilich noch nicht gut beschrieben. Enzyklopädien sollen vor allem konzis sein, dann erst kommt die Aktualität. Ausführlichkeit stört eher. Gerade die Wikipedia-Artikel zu abseitigen Themen zeichnen sich oft durch epische Breite aus. So ist der Dominion-Krieg aus der Science-Fiction-Serie "Star Trek" in der englischen Wikipedia ausführlicher beschrieben als manch realer Waffengang. Artikel zu allgemeinen Stichworten wie "Physik" oder "Literatur" werden in endlosen Diskussionen -- dokumentiert auf den Wikipedia- Seiten -- breitgetreten bis zur Unlesbarkeit. Während Britannica und Brockhaus abwägen können, welche Gebiete sie mit synoptischen Artikeln abdecken und welche sie besser in Einzelartikel aufteilen, neigt die Wikipedia zur Zersplitterung. Mittelständische Unternehmen und ländliche Gemeinden legen gern Einträge über sich an und füllen sie mit Werbetext.

Die Betreuer der Wikipedia steuern solchen Defiziten nach Kräften gegen. In einer "Qualitätsoffensive" lenken sie die Aufmerksamkeit ihrer Mitschreiber auf fehlende oder verbesserungswürdige Artikel und preisen ihnen "exzellente Artikel" als beispielhaft an. Fragwürdige Passagen geben sie zur Begutachtung an Fachleute. Weil sie schwerlich hunderttausende Artikel mit eigenen Augen im Blick behalten können, haben sie clevere technische Hilfsmittel entwickelt. Sie messen den Vernetzungsgrad des Artikelbestands durch Hyperlinks und die Zahl der schon verlinkten, aber noch ungeschriebenen Artikeldummys –- schlechte Vernetzung zeigt ein Qualitätsproblem an. Wenn der Computer zu viele Ausrufezeichen in einem Beitrag zählt, meldet er ihn als potenziell faul. Wenn wenige Benutzer einen Artikel mehrmals wechselweise ändern, könnte einer der gefürchteten Redigierkriege entbrannt sein, wie sie verfeindete Meinungslager über "Ozonloch", "Abtreibung" oder "Evolutionstheorie" ausfechten.