Die Kondensation des Wissens

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DIE WIKIPEDIA DES 18. JAHRHUNDERTS

Die Methode, Nachschlagewerke in verteilter Arbeit zu verfassen, ist viel älter als das Internet. Schon im 18. Jahrhundert ließ der Leipziger Verleger Johann Heinrich Zedler eine Enzyklopädie von freiwilligen Helfern schreiben. Wie die Wikipedia stellte das "Große vollständige Universal Lexicon" gemessen am Umfang alles Frühere in den Schatten. Mit rund 500.000 Stichwörtern erreichte es etwa den heutigen Stand der englischen Wikipedia. Und wie bei der Wikipedia ist die Identität der Verfasser unklar: "Vermutlich stammen die meisten Texte vom akademischen Proletariat in Leipzig", sagt Ulrich Schneider von der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel. "Die Zedler-Enzyklopädie war die Wikipedia des 18. Jahrhunderts", sagt Schneider, "das erste kollektiv erstellte Buchprojekt der Weltgeschichte."

Die französischen Enzyklopädisten Diderot und d'Alembert ließen ihre Artikel von prominenten Gelehrten schreiben und übertrafen damit zwar die Qualität des Zedler'schen Werks, blieben aber in der Umfassendheit weit dahinter zurück. Es waren Diderot und d'Alembert, die im historischen Gedächtnis blieben. "Zedler ist quasi untergegangen", bedauert Schneider.

EIN TEIL DER DATENFÜLLE WANDERT ZU YAHOO

Erst mit dem Internet fand das verteilte Schreiben sein Heimatmedium. Inzwischen entstehen Lehrbücher, Wörterbücher, Zeitungen und Landkarten in Kollektivarbeit. Menschen, die sich untereinander nicht beim Namen kennen, verfassen gemeinschaftlich Reiseführer und Romane. In Jurawiki und Gründerwiki formiert sich berufsspezifisches Wissen. Aber keines dieser Projekte erreicht annähernd den Umfang der Wikipedia. Mit mehr als 520 000 Lemmata ist die englische Ausgabe eine der größten Enzyklopädien der Geschichte. Der Vergleich der verschiedenen Wiki-Projekte offenbart ihr zentrales Erfolgskriterium: Je klarer sein Format definiert ist, desto besser entwickelt sich das Wiki. Jeder hat eine Vorstellung, wie ein Lexikonartikel auszusehen hat. Bei einem Romankapitel gehen die Meinungen auseinander, weshalb Romancierskollektive mitunter mehr gegeneinander als miteinander arbeiten.

Der Fleiß der Leser und Schreiber der Wikipedia fordert so viel Rechnerkapazität, dass die Administratoren nun einen Teil der überbordenden Datenfülle in Unternehmenshände geben. Die Bestände wandern im Juni auf Server von Yahoo in Asien. Es hatten sich insgesamt acht Organisationen als Gastgeber der Wikipedia angeboten, darunter Google und der belgische Internet-Provider Belnet.

Mit dem Jawort an Yahoo mögen die Wikipedianer in den Augen mancher Open-Source-Puristen ihre Unschuld verwirkt haben, aber sie sind weiterhin auf der Hut vor einseitigen Bindungen. Kooperationen mit anderen Unternehmen sind keineswegs ausgeschlossen - jetzt erst recht nicht: "Das ist kein Entweder-oder", sagt Mathias Schindler, Vorstandsmitglied der deutschen Wikimedia-Stiftung, "wir unterhalten uns weiter mit Google."