Die Kondensation des Wissens

Seite 6: Die Kondensation des Wissens

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WIKIPEDIA-SCHREIBEN IST MÄNNERSACHE

Was für Menschen genau zu den Wikipedia-Seiten beitragen, war bisher ein Rätsel, weil sie völlig anonym bleiben können. In einer ersten systematischen Untersuchung haben nun Würzburger Psychologen die Wikipedianer um Angaben zu ihrer Person und zu den Motiven ihres Engagements gebeten. Demnach ist Lexikonschreiben Männersache: Der Frauenanteil erreicht nur ein Zehntel. Der Durchschnitts-Wikipedianer ist 33 Jahre alt und widmet der Mitmach-Enzyklopädie täglich zwei Stunden -- wobei ein Hauptmotiv in der Verbesserung des eigenen Wissens besteht. Ein Viertel sind Studenten. Während man aus der deutschen akademischen Elite kaum ein offenes Bekenntnis zum Wikipedia-Gebrauch hört, zieht die freie Enzyklopädie in den USA erkennbar in den Hochschulalltag ein. Zunehmend taucht sie in den Bibliografien von Forschungsarbeiten auf, und es kommt vor, dass Autoren wissenschaftlicher Bücher ihre Manuskriptfragmente zur Vorprüfung in die Wikipedia stellen.

Allerdings ist die wachsende Bedeutung der "glaubensbasierten Enzyklopädie" nicht bei allen Akademikern jenseits des Atlantiks gern gesehen. Denn worauf bezieht man sich, wenn man die Wikipedia zitiert? Kein Verfasser zeichnet sich verantwortlich, allzu selten ist die Herkunft der Angaben belegt. Und selbst wenn alles seine Richtigkeit hatte: Sobald ein Leser einen als Quelle angegebenen Eintrag nachschlägt, kann dort etwas ganz anderes stehen.

Doch getreu dem Wikipedia-Prinzip können die Betreuer ihre Mitschreiber nur freundlich zu besserer Quellenarbeit anhalten, aber nicht dazu verpflichten. Gleichwohl beharren sie auf der reinen Lehre der Wikisophie. "Wir glauben, dass unser Verfahren zu den besten Lexikontexten führt", sagt Ober-Wikipedianer Mathias Schindler. "Wenn jemand einen besseren Weg findet, dann würden wir ihn gehen." Vielleicht sind Schindler und Kollegen auf diesem Weg weiter, als sie sich eingestehen. In der Praxis ist die Wikipedia schon heute weniger egalitär als in der Theorie. Der "harte Kern" der Wikipedia-Mitarbeiter, also jene, die schon mehr als hundertmal in das Werk eingegriffen haben, zählt in Deutschland keine 500 Köpfe -- verschwindend wenig gemessen an der Zahl der Zugriffe. 138 Nutzer haben Administratorenrechte für die deutsche Wikipedia, und mit den wachsenden Qualitätsanstrengungen bestimmt dieser Zirkel zunehmend die Entwicklung des Gemeinschaftswerks.

"Das Prinzip der Selbstorganisation hat sich hohl gelaufen", sagt der Germanist Wolf-Andreas Liebert von der Universität Konstanz. Die Wikipedia wird sich demnächst vom Dogma der radikalen Offenheit verabschieden müssen, meint Liebert: "Sie wird nur dann hoch qualifizierte Autoren gewinnen können, wenn sie den Erhalt guter Texte sicherstellt." Ein Anknüpfungspunkt dafür könnte eine Funktion zur Bewertung von Einträgen liefern, die für eine demnächst kommende Version der Wikipedia-Software vorgesehen ist. Eine solche Funktion macht es möglich, hochwertigen Inhalt vor Verschlimmbesserung zu schützen, indem man den aktiven Zugriff darauf kontrolliert, während weniger wertiger Inhalt zur allgemeinen Bearbeitung frei bleibt. Andererseits zeigt die Erfahrung mit der Nupedia, wie leicht die Arbeitsfreude der Nutzer erstickt. Das ist das Gleichgewicht, das die Wikipedia finden muss: Bei zu viel Laisser-faire droht die Stagnation im gehobenen Mittelmaß, übermäßige Strenge erstickt die Arbeitsfreude. Fehlbarkeit liegt in der Natur der Wikipedia, und man verzeiht sie gern, solange die kollektive Texttüftelei zu dauerhaften Verbesserungen führt, nicht nur zu mehr Lebhaftigkeit.

(Entnommen aus aus Technology Review Nr. 5/2005; das Heft können Sie hier bestellen) (wst)