Die unsichtbare Gefahr

Inhaltsverzeichnis

Die Wirkung radioaktiver Strahlung

Warum und ab wann ist nun radioaktive Strahlung schädlich? Bei der Kernspaltung entstehen instabile Atomkerne (Radionuklide), die in der Folge – unter Abgabe von energiereicher radioaktiver Strahlung – in weitere instabile Produkte zerfallen. Wird die Strahlung bei einem Atomunfall freigesetzt, schädigt sie Zellen und Gewebe je nach Art und wie sie aufgenommen wurde unterschiedlich stark.

Typische Reichweiten für die verschiedenen Arten radioaktiver Strahlung.

(Bild: Klaus Stierstadt, "Atommüll - wohin damit", 2010; mit freundlicher Genehmigung des Verlags Harri Deutsch)

Alphastrahlung, positiv geladene Heliumkerne, wie sie zum Beispiel zerfallendes Plutonium oder Uran freisetzen, hat zwar nur eine kurze Reichweite – in Luft fünf Millimeter – und kann leicht schon durch ein Blatt Papier abgeschirmt werden. Werden Alphastrahler aber eingeatmet, wirken sie durch ihre hohe Energie sehr massiv im Körper. Betastrahlen, also Elektronen, und Gammastrahlen, elektromagnetische Strahlung, sind im Vergleich zu Alphastrahlen weniger energiereich. Allerdings sind sie viel schwerer abzuschirmen, weil sie eine größere Reichweite haben: Betastrahlen kommen in Luft immerhin zwei Meter weit, während sich die Intensität von Gammastrahlen in Luft nach 100 Metern halbiert hat. Beide Arten können auch die Haut durchdringen.

Die Strahlung selbst ist jedoch in der unmittelbaren Umgebung des Atomkraftwerks das vergleichsweise kleinere Problem, da ihre Intensität im Verhältnis zur Entfernung im Quadrat abnimmt. Das größere Problem sind die freigesetzten radioaktiven Partikel, die durch Wind oder im Grundwasser stark und weit verbreitet werden können – und dann eingeatmet oder durch die Nahrung aufgenommen werden. Dabei tötet die Strahlung die Zellen im Körper nicht ab, unterbindet aber ihre Teilungsfähigkeit und schädigt ihre DNA. Dadurch können aber die Stammzellen das jeweilige Gewebe nicht mehr erneuern: Gewebe mit kurzer Lebensdauer wie Haut und Schleimhaut nehmen schneller Schaden, solche mit einer längeren Lebensdauer wie Knochen- und Nervenzellen erst später.

Gefährlich sind vor allem radioaktive Isotope von Jod, Cäsium, Strontium und Plutonium, die sich in verschiedene Gewebe einlagern und dort je nach ihrer sogenannten "effektiven Halbwertszeit" über längere Zeit strahlen. Die effektive Halbwertszeit berechnet sich aus der physikalischen Halbwertszeit (die Zeitspanne, nach der die Hälfte der Isotope weiter zerfallen ist) und die biologische Halbwertszeit (die Zeitspanne, in der die Hälfte der aufgenommenen Isotope vom Körper ausgeschieden wird). Jod-131 (effektive Halbwertszeit: etwa sieben Tage) lagert sich in die Schilddrüse ein und kann dort später Krebs auslösen. Deshalb haben die Behörden in Japan Jodtabletten an die Bevölkerung verteilt: Erhält die Schilddrüse kontinuierlich unbelastetes Jod, das es für die Bildung von Hormonen regelmäßig braucht, sind die Plätze für die radioaktive Variante schon "besetzt".

Cäsium-137 (effektive Halbwertszeit: 110 Tage) sammelt sich in vielen verschiedenen Geweben an, zum Beispiel im Magen-Darm-Trakt, in den Nieren, den Muskeln und auch in der Schilddrüse. In Japan steigt derzeit die Nachfrage nach dem in Deutschland hergestellten Medikament "Radiogardase-Cs", dessen Wirkstoff – die Farbe "Preußischblau" – aufgenommenes Cäsium bindet und aus dem Körper zu schwemmen hilft. Strontium-90 (effektive Halbwertszeit: 18 Jahre) reichert sich in den Knochen an, weil der Körper es dort irrtümlicherweise statt Kalzium einbaut. Dann kommt es zu Knochentumoren, aber auch das Knochenmark wird geschädigt. Plutonium-Isotope schließlich sammeln sich hauptsächlich in Lunge und Leber.*