Epidemiologe: Corona-Testpflicht für chinesische Touristen "nicht durchdacht"

In China rollt die nächste Corona-Welle. Der Epidemiologe Klaus Stöhr hält eine Testpflicht dennoch für nicht hilfreich. Im TR-Interview erklärt er, warum.

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(Bild: PhotoSGH / Shutterstock.com)

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Professor Klaus Stöhr ist Epidemiologe, Virologe und Tiermediziner. Er arbeitete 15 Jahre lang bei der WHO unter anderem als SARS-Forschungskoordinator und Leiter des globalen Influenza-Programms, später dann in der Pharma-Branche. Heute ist er unter anderem als Berater tätig. Im Interview mit MIT Technology Review äußert sich Stöhr kritisch zur neuen Testpflicht für Einreisende aus China – und bewertet die Lage.

Herr Professor Stöhr, in Reaktion auf die neue große Corona-Welle in China führt Deutschland eine Testpflicht für Besucher aus dem Land ein. Wie schätzen Sie diese Maßnahme ein?

Prof. Klaus Stöhr.

(Bild: Screenshot Phoenix / YouTube)

Ich halte sie nicht für zielführend – und man hat ja nicht einmal klar zum Ausdruck gebracht, was man damit eigentlich erreichen will. Rechnen wir doch einmal: In vorpandemischen Zeiten sind ungefähr 16.000 Touristen pro Tag aus China nach Westeuropa eingereist. Gehen wir einmal davon aus, dass 30 bis 40 Prozent von diesen, also 5.000 bis 6.000 Personen, infiziert wären, was schon irrwitzig hoch ist. Die Anzahl der positiv auf Corona getesteten liegt in Westeuropa derzeit ungefähr bei 100.000 pro Tag, die Dunkelziffer dürfte vier bis fünf Mal so hoch sein, also 500.000. Dann kommen da jetzt also noch 5.000 zusätzliche Infizierte hinzu, das sind 1 Prozent. Nun zu glauben, dass die wenigen einreisenden Chinesen jetzt einen Riesenunterschied machen, wäre extrem. Das basiert einfach nicht auf den Zahlen und Fakten.

Und was ist mit dem möglichen Einschleppen von neuen Covid-19-Varianten nach Europa?

Hier fehlt mir die praktische Relevanz: Wenn man an den Grenzen Varianten finden würde, dann weiß man immer noch nicht, ob die dominant werden oder ob sie vielleicht wieder verschwinden. Man weiß auch nicht, ob diese einen stärkere Krankheitsverlauf verursachen oder ob sie andere Altersgruppen betreffen. All das ist völlig unklar. Was will man also mit dem Wissen anfangen, dass diese Varianten jetzt ankommen?

Man kann also keine Handlungsoptionen daraus ableiten. Wenn man wissen wollte, ob eine Variante wichtig wird, müsste man unter anderem einschätzen können, wie sie sich in einer Population verhält. Die ganze Testerei ist also aus meiner Sicht nicht bis zum praktischen Ende durchdacht. Sie ist zudem nicht praktikabel, wenn man sich überlegt, dass beispielsweise in Hessen keine Isolationspolitik mehr besteht. Das heißt also: Wenn jetzt jemand am Frankfurter Flughafen ankommt und im Nachhinein positiv getestet wurde, dann kann man mit ihm auch nichts machen.

Welche Gefahren gehen von der chinesischen Welle aus?

Für Europa ergeben sich keine Konsequenzen daraus. Die Einschleppung von mehr Virus nach Europa ist irrelevant, da es hier bereits weit verbreitet ist. Man sieht nur nicht viel davon, weil sehr viele Menschen schon immun sind. Die paar Touristen machen keinen Unterschied.

Was Fachfremde bei der Angst vor neuen Virusvarianten nicht verstehen: Varianten, die den Impfschutz unterlaufen, entstehen wahrscheinlicher dort, wo bereits ein sehr großer Immunschutz existiert. Das würde also eher in Europa oder Nordamerika sein und weniger dort, wo der Immunschutz noch geringer ist, wie z.B. in China. Dort haben Varianten, die den Immunschutz unterlaufen, einen weit geringeren Vorteil. Es ist also weniger wahrscheinlicher, dass solche Varianten in China entstehen.

Corona-Pandemie: Neue Varianten - Erkrankung - Impfung

Müsste man, wenn man Corona-Tests für Reisende verlangt, letztlich nicht auch auf andere Erkrankungen wie Influenza testen?

Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit: ganz genau, denn weniger als 10 Prozent der akuten Atemwegserkrankungen in Deutschland werden gegenwärtig durch Corona verursacht und mehr als 60 Prozent durch Influenza. Dann kommen sogenannte Metapneumoviren und Rhinoviren und irgendwann Corona. Also wer da jetzt wirklich einen Unterschied machen wollte, der könnte an den Grenzen tatsächlich auf Influenza testen.

Aber auch das würde nicht helfen, weil das Virus ja hier in Europa schon zirkuliert. Der Glaube, dass man ubiquitäre, also überall vorkommende Atemwegerreger durch Grenzschließungen, durch Quarantäne und Isolationsmaßnahmen signifikant an der Ausbreitung hindern kann, ist absolut evidenzbefreit.

China scheint nach wie vor eine Black Box zu sein, was Testergebnisse und Informationen zu neuen Varianten angeht. Wird sich das wieder ändern?

Beim Ausbruch noch in Wuhan hat es etwas gedauert, bis wir Daten hatten. Dann hat sich das Pekinger CDC (Center for Disease Control) eingeschaltet und man war anfangs sehr kooperativ. China wollte sich nicht wie 2003 bei SARS noch einmal sagen lassen, dass man zu wenig oder gar nichts gemacht hat. Man hat versucht, den Erreger an Ort und Stelle auszulöschen mit den dramatischsten Maßnahmen, die man sich vorstellen kann. Das hat nicht geklappt und in dem Moment war klar, dass es zu einer Pandemie kommen würde.

Schließlich kam es von westlicher Seite zu einer Stigmatisierung. Man erinnere sich nur an den US-Präsidenten Trump mit seinem "Chinese Virus". Das hat sicherlich dazu beigetragen, dass sich die Chinesen wieder isolierten. Danach hat man sich mit der null realistischen Zero-Covid-Strategie komplett eingegraben. Jetzt wäre es sicherlich vernünftig, wenn die Sequenzierungsdaten, die natürlich in China auch vorliegen, international geteilt würden. Dann hätten wir diese ganze aktuelle Diskussion nicht.

Hat Sie die schnelle Streichung der chinesischen Zero-Covid-Politik überrascht?

Ich hätte sie eher im März 2023 erwartet, also beim nächsten großen Parteitreffen. Prinzipiell hätte ich gehofft, dass es gar nicht zu dieser Zero-Covid-Politik kommt. Sie ist von Anfang an unsinnig gewesen. Dass man das jetzt so schnell beendet – und offenbar auch aufgrund des Druckes aus der Bevölkerung –, ist schon interessant.

Einerseits ist es gut für die Menschen in China. Dass man es jetzt so abrupt macht, hätte man aber sicherlich diskutieren können. Und man hätte bestimmt mehr machen müssen etwa bei der Impfung. Dann hätten die Auswirkungen, die man jetzt sieht, reduziert werden können.

(bsc)