Missing Link: Das Digitalmysterium

Nach der Bundestagswahl könnte Deutschland erstmals ein eigenständiges Digitalministerium bekommen. Ob das real etwas bringt, hängt von vielen Faktoren ab.

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In der Glasfassade vom LĂĽders-Haus gespiegelter Reichstagsbundestag

In der Glasfassade vom LĂĽders-Haus gespiegelter Reichstagsbundestag

(Bild: Falk Steiner)

Lesezeit: 16 Min.
Inhaltsverzeichnis

Was muss getan werden, damit Deutschland vom Schlafwandler und Nachzügler der Digitalisierung zu einem Spitzenland wird? Wie können die Potenziale – unter anderem in der Verwaltung – von schönen Powerpoint-Folien zur Realität werden? Wie können alte Prozesse nicht nur am Endnutzerinterface neu aufgesetzt werden? Solche Fragen beschäftigen eine Vielzahl von Politikern, Interessenvertretern und Think Tank-Mitarbeitern in Berlin in diesen Tagen, in denen Wahlprogramme geschrieben und Kandidatenentscheidungen über Landeslisten und Direktmandate gefällt werden.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Wenn Ende Februar der 21. Deutsche Bundestag gewählt wird, dann könnte danach zum ersten Mal ein vollwertiges, eigenständiges Digitalministerium entstehen. Entsprechende Pläne liegen bei den Unionsparteien und der FDP in der Schublade, auch Wirtschaftsverbände wie Bitkom und Eco fordern das vehementer denn je zuvor. Denn mit dem Stand der Dinge sind alle Beteiligten unzufrieden. Doch würde mit einem Digitalministerium alles besser? Die Konzepte, soweit sie bekannt sind, haben Tücken – und zwei der größten Probleme werden dabei weitgehend ignoriert.

Die Bundesrepublik Deutschland hat einige Versuche unternommen, um der Digitalisierung einen höheren Stellenwert in der Bundespolitik zu geben. Angela Merkel fand das Thema immer wichtig und bedauert in diesen Tagen öffentlicher Selbstinterpretation gern, dass sie es als Bundeskanzlerin nicht so vorantreiben konnte, wie sie es gern getan hätte. In den 16 Jahren ihrer Kanzlerschaft wurden zwei Modelle ausprobiert: 2014 mit einem Triumvirat. Thomas de Maizière (CDU) sollte als Innenminister die Verwaltung digitalisieren, Sigmar Gabriel (SPD) als Wirtschaftsminister den Silicon Valley-Kapitalismus zähmen und deutsche Unternehmen päppeln, Alexander Dobrindt (CSU) als Minister für Verkehr und digitale Infrastruktur für Breitband und Mobilfunk sorgen. Die Erfolge waren höchstens mäßig, alle drei fremdelten auf ihre Weise mit der jeweiligen Problematik. Die sogenannte "Digitale Agenda" der damals noch Großen Koalition war nicht gerade ambitioniert – und wurde trotzdem nur teilweise umgesetzt.

2019 wollte Merkel es dann anders probieren: Alle Ministerien seien Digitalministerien, hieß es ab jetzt. Das Kanzleramt sollte die digitalpolitischen Vorhaben koordinieren – Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) war verantwortlich und Herr des Verfahrens, Staatsministerin Dorothee Bär (CSU) sollte nach außen das Thema vertreten. "Sie arbeitet dem Chef des Kanzleramtes, Helge Braun zu, ohne über eigene Entscheidungsbefugnisse zu verfügen", befand der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages in einem Sachstandsbericht im April 2021. Aus der Digitalen Agenda wurde eine "Digitalstrategie", Worte wie Agilität fanden plötzlich statt.

Ein Digitalkabinett tagte häufiger vor der eigentlichen Kabinettssitzung, in der wesentliche Fragen besprochen werden sollten. Zusätzlich ließ sich Merkel von einem "Digitalrat" beraten – dessen Ernsthaftigkeit immer wieder infrage gestellt wurde. Mit einem kleinen Team im Kanzleramt wurde vier Jahre lang versucht, ressortübergreifende Konsense herzustellen. Teils erfolgreich, etwa mit der Corona-Warn-App, die dem Gesundheitsministerium unter Jens Spahn (CDU) weitgehend entzogen wurde – weil dort maximale Datenerfassung als Prämisse galt. Und doch geschah wenig – zu wenig. Mit den Coronakrisen-Hilfsmitteln wurde das Onlinezugangsgesetz angeschoben, mit dem die Verwaltungsdigitalisierung vorangetrieben werden sollte, und der Digitalpakt Schule aufgelegt.

Mit der Ampelregierung 2021 wurde das Digitale erneut umsortiert: Die Steuerung im Kanzleramt wurde aufgegeben, jetzt sollten alle Ministerien wirklich Digitalministerien sein – und Volker Wissing (damals FDP) bekam ein paar Fachreferate aus anderen Ministerien dazu, um künftig als Digitalminister auch jenseits von Breitband und Mobilfunk wirken zu dürfen. Und in vielen Ministerien wurde irgendetwas mit Digitalisierung gemacht, wenn nicht gerade wichtigeres Priorität hatte. Wahrscheinlich am besten beschreibt den Zustand der Ampel-Digitalpolitik die Tatsache, dass mit Mitteln der Ukraine-Unterstützung ein gemeinsames Projekt aufgesetzt wurde: Unternehmen und Behörden aus der Ukraine sollten finanziell dabei unterstützt werden, ihr Wissen um die Digitalisierung mit deutschen Behörden und Unternehmen zu teilen.

Wie viele Milliarden Euro in den vergangenen Jahren für Beraterverträge zu IT-Projekten ausgegeben wurden? Kaum feststellbar. Wie viele Projekte de facto gescheitert sind, und nie abgesagt wurden? Schwer zu ermitteln – aber dass die Gelder in den vergangenen Jahren etwa bei der Verwaltungsdigitalisierung oder der Förderung von Digitalunternehmen effizient und vor allem wirksam eingesetzt worden wären, behauptet niemand.

Doch Politik als herrschaftliches Handeln ist in weiten Teilen eine Frage der Organisation – eine Frage der Bürokratie, und das ist nicht von vornherein negativ gemeint. Diese braucht Befugnisse, normalerweise Gesetze und Verordnungen, um handeln zu dürfen. Und Geld, um wirkungsvoll handeln zu können. Vorzugsweise entlang gemeinsamer Standards über die einzelnen Ressorts hinweg. Genau da sollte 2021 eigentlich das Digitalbudget anknüpfen: Die Idee war bestechend einfach – jedes Ministerium hätte Gelder für Projekte aus diesem Topf bekommen können, der von normalen Haushaltstiteln getrennt würde. Dafür hätte es Kriterien gegeben, wie etwa, dass dabei ressortübergreifend digitalisiert würde, offene oder zumindest nachnutzbare Vorhaben umgesetzt würden, die interoperabel mit anderen Vorhaben sind. Doch außer dem Wort gab es: Nichts. Denn in Deutschland ist jedes Ressort selbst Herr seiner Vorhaben, auch wenn diese vom Kabinett verabschiedet werden müssen. Und so digitalisiert jeder Bereich weiter in seinen Säulen vor sich hin. Und jede Ebene.