Missing Link: Das Rätsel Dunkle Materie – auf der Jagd nach einem Gespenst

Seite 2: Schwarze Löcher im solaren Vorgarten?

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Wie sieht es aus mit Schwarzen Löchern? Im heutigen Universum entstehen Schwarze Löcher aus Riesensternen von mehr als 20 Sonnenmassen, die am Ende ihres Lebens einen Kernkollaps erleiden, oder bei der Verschmelzung von zwei massereichen Neutronensternen, wie wir dank der Messungen der LIGO- und Virgo-Gravitationswellen-Teleskope wissen. Solche Objekte begannen als baryonisches Gas, das sich zu Sternen formte und scheiden mit obiger Begründung für die Dunkle Materie aus.

Anders sähe es aus, wenn die Schwarzen Löcher schon vor der primordialen Nukleosynthese entstanden wären, denn dann hätten sie an dieser nicht teilgenommen. Schon 1974 schlugen Stephen Hawking und Bernard Carr vor, dass in der ersten Sekunde nach dem Urknall, als das Universum im Wesentlichen von Strahlung erfüllt war, lokale Verdichtungen aufgrund ihrer eigenen Schwerkraft die Raumexpansion überwunden haben und zu sogenannten "primordialen Schwarzen Löchern" kollabiert sein könnten. Auf diese Weise könnten, je nach dem gewählten Zeitpunkt, Schwarze Löcher von 10 Mikrogramm bis zu 100.000 Sonnenmassen entstanden sein – eine riesige Spanne. Allerdings müssten Schwarze Löcher von weniger als einer Milliarde Tonnen (etwa die Masse eines 1000 Meter durchmessenden Asteroiden) heute bereits durch Hawking-Strahlung zerfallen sein, oder gerade im Begriff sein, dies zu tun, was zum Beispiel im Halo der Milchstraße zu messbaren Gammastrahlenausbrüchen führen müsste. Das Fermi Gammastrahlen-Weltraumteleskop der NASA war darauf ausgelegt, solche Ausbrüche zu finden, entdeckte jedoch keine.

Die zuvor genannten Mikrolinsen-Beobachtungskampagnen schließen einen Bereich zwischen etwa der Mondmasse und 10 Sonnenmassen aus – darüber hinaus wären die Schwarzen Löcher so dünn gesät, dass die Beobachtungszeit der MACHO-Suchen zu kurz gewesen wäre, um genug davon aufzuspüren, denn ihre mutmaßliche Gesamtmasse in Form der Dunklen Materie ist ja bekannt. Je größer sie sind, desto weniger von ihnen kann es geben.

Durch verschiedene Beobachtungen ausgeschlossene Massen primordialer Schwarzer Löcher als Träger der Dunklen Materie. Auf der x-Achse unten die Masse in Gramm, oben in Sonnenmassen. Auf der y-Achse der Anteil an der Dunklen Materie – ein Faktor deutlich über 10-1 ist gesucht. Nur in den Bereichen A und D könnten Schwarze Löcher die gesamte Dunkle Materie bilden, wobei D für Galaxienhalos schon viel zu groß ist. Die Bereiche B und C könnten einen signifikanten Anteil von über 10% beitragen, aber nicht die gesamte Dunkle Materie erklären. Die übrigen Buchstaben stehen für die verschiedenen Beobachtungen, z.B. GC für Zerfallsstrahlung aus dem galaktischen Zentrum, GW für Gravitationswellenteleskope, O und EM für die OGLE-, EROS und MACHO-Beobachtungen, WB für weite Binärsysteme etc. (siehe verlinkte Arbeit).

(Bild: Bernard Carr & Florian Kuhnel)

Im Bereich 10-100 Sonnenmassen setzt die Häufigkeit der von den Gravitationswellen-Teleskopen LIGO und Virgo beobachteten Verschmelzungen Schwarzer Löcher denselben eine Grenze – diese Teleskope überblicken einen nennenswerten Teil des beobachtbaren Universums und wenn die Dunkle Materie aus Schwarzen Löchern stellarer Masse bestünde, dann müssten sie eine mindestens 10-fach höhere Rate an Ereignissen beobachten, als sie es tun.

Bei 10.000 Sonnenmassen schweren Objekten müssten diese als Gravitationslinsen von Supernovae in weit entfernten Galaxien statistisch ins Gewicht fallen, was nicht beobachtet wird. Außerdem würden sie als große Schwerkraftsenken im Plasma den kosmischen Mikrowellenhintergrund messbar beeinflusst haben. Noch höhere Massen sind aufgrund von dynamischen Effekten ausgeschlossen: beginnend bei 10 Sonnenmassen würden sie bei der nötigen Anzahl weite Doppelsterne bei dementsprechend häufigen Begegnungen nach kurzer Zeit voneinander trennen (was sich aufgrund der Häufigkeit solcher Systeme ausschließen lässt) bis hin zu Billionen Sonnenmassen, bei denen sie ganze Galaxien durch ihre Gezeitenkraft aufreiben würden.

Bliebe als vielversprechendster Bereich eine Masse von 1016 bis 1017 Kilogramm, im Massebereich großer Asteroiden. Die berechtigte Frage danach, wie viele solcher Objekte sich statistisch gesehen im Sonnensystem aufhalten sollten, lässt sich anhand der mittleren Dichte der Dunklen Materie von 6·10-28 kg/m³ berechnen. Im Volumen der Neptunbahn würde man demnach im Mittel etwa 1017 Kilogramm Dunkle Materie erwarten. Man müsste also durchaus mit 1 bis 100 von ihnen zu einer gegebenen Zeit im Sonnensystem rechnen. Sie wären allerdings mikroskopisch klein, 1 Picometer bis 0,1 Nanometer, in der Größenordnung von Atomen. Würden sie die Erde durchschlagen, so würde dies ein sehr kleines Erdbeben auslösen. Viel an Masse gewinnen würden sie dabei wegen ihrer submikroskopischen Abmessungen nicht, und sie hätten die Erde in weniger als einer Minute durchquert. Dergleichen hat man allerdings noch nie beobachtet und bei bestenfalls in der Größenordnung von 100 Stück im riesigen Sonnensystem braucht man auch nicht darauf zu warten.

Es ist folglich nicht ausgeschlossen, dass die Dunkle Materie aus primordialen Mini-Black-Holes von Asteroidenmasse besteht. Sie würden sich exakt so verhalten, wie es von der Dunklen Materie erwartet wird: sich kollisionsfrei durch den Raum bewegen, mit Photonen nicht wechselwirken (selbst Photonen des sichtbaren Lichts zu verschlucken wäre ihnen bei Abmessungen weit unterhalb der Lichtwellenlänge nicht möglich), sie hätten die primordiale Nukleosynthese nicht beeinflusst, sie wären im Sonnensystem wie auch insgesamt eher dünn gesät und mit den bisherigen Beobachtungsmöglichkeiten kaum nachzuweisen. Vorgeschlagene Prozesse ihrer Entstehung sind bisher allerdings höchst spekulativ.

Im Laufe der 1980er meldeten sich zunehmend Teilchenphysiker zu Wort und schlugen vor, dass beim Urknall neben der gewöhnlichen baryonischen Materie noch weitere Teilchenarten entstanden sein könnten, die uns bisher vollkommen entgangen sind. Das ist weniger weit hergeholt, als es zunächst klingt. Das Standardmodell der Teilchenphysik mit seinen 17 Elementarteilchen – Teilchen, bei denen wir davon ausgehen, dass sie nicht weiter zusammengesetzt, sprich "elementar", sind – wurde seit den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelt. Erst 1983 wurden die W- und Z-Bosonen experimentell nachgewiesen. Das schon 1964 vorgeschlagene Higgs-Teilchen wurde gar erst 2013 am CERN aufgespürt. Das Modell ist in sich vollständig und erlaubt extrem genaue Berechnungen einiger physikalischer Größen wie etwa des magnetischen Moments des Elektrons, das wie ein kleiner Stabmagnet wirkt.

Dieser Wert wird der Theorie gemäß von Interaktionen mit virtuellen Teilchen in seiner Umgebung modifiziert; das sind solche, die spontan im Vakuum entstehen und wieder vergehen. Man muss alle denkbaren Interaktionen mit virtuellen Vertretern des Standardteilchen-Zoos gewichtet mit ihrer statistischen Häufigkeit berücksichtigen, um das magnetische Moment korrekt zu berechnen. Etwa 10.000 verschiedene mögliche Interaktionen werden dafür berücksichtigt, alles darüber hinaus wird aufgrund von Insignifikanz ignoriert. Theorie und Messung unterscheiden sich dabei erst in der 11. signifikanten Stelle, wobei die heutigen Messungen auf sagenhafte 13 Stellen genau sind.

Die Elementarteilchen des Standardmodells mit ihren Quanteneigenschaften. Links Fermionen mit halbzahligem Spin (½), wobei die Generation I (linke Spalte) die gewöhnliche Materie bildet. Rechts die Bosonen, Teilchen der Wechselwirkung mit ganzzahligem Spin (1 oder 0). Violett die schweren Quarks, grün die leichte Leptonen, orangefarben die Bosonen der gerichteten Grundkräfte (Eich- oder Vektorbosonen), gelb das Higgs-Boson, das die ungerichtete Masse erzeugt (daher Skalarboson).

(Bild: Wikimedia Commons)

Das Standardmodell beschreibt die Elementarteilchen und ihre Wechselwirkungen. Es unterscheidet zunächst zwischen Fermionen (das sind die Teilchen der Materie, die halbzahligen Spin haben) und Bosonen (das sind die Teilchen, die die Grundkräfte zwischen den Fermionen vermitteln, denn im Standardmodell ist zum Beispiel die elektrostatische Kraft mit dem Austausch von Photonen verbunden; Bosonen haben ganzzahligen Spin). Die Fermionen unterteilen sich weiter in die schweren Quarks und leichten Leptonen. Diese bilden 3 Generationen: Das Up- und Down-Quark, aus denen Protonen und Neutronen zusammengesetzt sind, das Elektron und ein ihm zugeordnetes Neutrino (beide Leptonen) bilden die erste Generation, aus der unsere wohlvertraute Materie besteht. Die beiden anderen Generationen bestehen aus schwereren Teilchen mit höheren Massen, die nur kurzlebig sind und die in der Wildbahn lediglich als vorübergehende Zerfallsprodukte oder virtuelle Teilchen vorkommen.

Zu den Bosonen gehören die Gluonen, welche die Quarks in den Kernteilchen über die "starke Wechselwirkung" zusammenhalten, die Photonen, die die elektromagnetische Kraft vermitteln, sowie die W- und Z-Teilchen, die für die "schwache Wechselwirkung" zuständig sind, welche bei den Prozessen der Radioaktivität, Kernfusion oder Umwandlung von Teilchen eine Rolle spielt.

Wie etwa dem zuvor erwähnten Neutronenzerfall, bei dem sich ein Down-Quark unter Aussendung eines Elektrons und eines (Anti-) Elektron-Neutrinos in ein Up-Quark umwandelt, so dass aus dem Neutron ein Proton wird. Zu den Bosonen gehört auch das Higgs-Teilchen, ein Anregungszustand des Higgs-Felds, welches den (meisten) anderen Elementarteilchen ihre Ruhemassen gibt (bis auf die masselosen Photonen und Gluonen). Möglicherweise gibt es auch ein Boson der Gravitation, genannt Graviton, das bisher hypothetisch ist und über das Standardmodell hinaus geht.

Zu allen Fermionen gibt es Antiteilchen mit umgekehrten Ladungen und ansonsten gleichen Eigenschaften. Die Antiteilchen der Bosonen sind andere Bosonen oder sie selbst. Damit ist das Standardmodell komplett und man kann damit so gut wie alle Prozesse der Quantenwelt erklären. Bis auf wenige Ausnahmen.

Zum Ersten wäre da die Asymmetrie von Materie und Antimaterie (Baryonenasymmetrie). Beim Urknall waren die Temperaturen in der ersten zehnmilliardstel Sekunde so hoch, dass nur Strahlung existieren konnte. Mit zunehmender Expansion bildeten sich aus der Strahlung Teilchen-Antiteilchen-Paare – die Umkehrreaktion zur bekannten Paarvernichtung von Teilchen und Antiteilchen zu Strahlung. Nach der Standardtheorie hätte mit weiterer Abkühlung und Ausdünnung der Strahlung die Paarvernichtung schließlich die Oberhand gewonnen und alle entstandene Materie wieder in Strahlung zurückverwandelt, und dann gäbe es heutzutage nur Hintergrundstrahlung, aber keine Sterne, keine Planeten, keine Leute und keine Giraffen. Dass es Giraffen gibt, zeigt jedoch, dass das Standardmodell nicht die ganze Wahrheit sein kann, denn offenbar ist ein kleiner Überschuss von etwa einem Milliardstel Anteil Materie verblieben, der keine Antimaterie zur Paarvernichtung mehr fand.

Zum Zweiten sagt das Standardmodell voraus, dass Neutrinos in gleicher Anzahl rechts- oder linkshändig sein sollten. Teilchen sind "rechtshändig", wenn ihr Spin, eine Art quantenmechanische Rotation, in der gleichen Richtung orientiert ist wie ihre Bewegungsrichtung. Formt man mit der rechten Hand eine Daumen-Hoch-Geste, zeigt der Daumen in Bewegungsrichtung und die übrigen Finger in Rotationsrichtung. Weist der Spin in die Gegenrichtung, dann zeigt die linke Hand mit Daumen-Hoch-Geste die Rotationsrichtung mit vier Fingern an, also ist das Teilchen "linkshändig". Alle drei Neutrinoarten sind aber Linkshänder.

Und zum Dritten passen die Massen der Elementarteilchen von der Größenordnung nicht zu den Werten der physikalischen Konstanten des Universums, namentlich die Lichtgeschwindigkeit, das Plancksche Wirkungsquantum, die Boltzmann-Konstante, die Coulomb-Konstante und die Gravitationskonstante. Auf ihrer Basis lässt sich ein ganzes System von elementaren Einheiten für Zeit, Länge, Ladung, Temperatur und Masse zusammenstellen. Man würde erwarten, dass die Masse der Elementarteilchen in der Nähe der Planck-Masse liegt. Diese ist mit 1,221·1022 MeV/c² jedoch ganze 17 Zehnerpotenzen größer als die des Higgs-Teilchens, und da es die Masse der anderen Elementarteilchen bestimmt, sollten deren Massen vergleichbar groß sein (Hierarchieproblem).