Missing Link: Das Rätsel Dunkle Materie – auf der Jagd nach einem Gespenst

Nachdem deutlich ist, warum wir wissen, dass es Dunkle Materie geben muss, stellt sich die nächste Frage: Woraus besteht sie und wie können wir sie nachweisen?

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Der Galaxienhaufen MACS J0416.1–2403 im Sternbild Eridanus. Der Aufnahme des Hubble Weltraumteleskops wurde in Blau die Dichte der Dunklen Materie überlagert, die aus den deutlich sichtbaren Abbildungsverzerrungen der Hintergrundgalaxien rekonstruiert wurde.

(Bild: NASA, ESA, D. Harvey (École Polytechnique Fédérale de Lausanne, Switzerland), R. Massey (Durham University, UK) and HST Frontier Fields, CC BY 4.0)

Lesezeit: 41 Min.
Von
  • Alderamin
Inhaltsverzeichnis

Wie groß ist das Universum? Woraus besteht es? Wie ist es entstanden und wie wurde es so, wie wir es heute kennen? Mit diesen Themen beschäftigt sich die Kosmologie, die Lehre von der Entstehung und Entwicklung des Universums. Sie ist derzeit eine der spannendsten Disziplinen der Naturwissenschaft, und sie spannt einen Bogen von der Physik des Allerkleinsten zu den größten Strukturen, die wir kennen. Die neue Artikelreihe skizziert den derzeitigen Stand des Wissens und legt dar, warum die große Mehrheit der Kosmologen scheinbar so absurden Ideen anhängt wie von leerem Raum mit abstoßender Gravitation, der Entstehung des Universums aus dem Nichts und dem unsichtbaren Stoff, aus dem 95 Prozent des Universums bestehen. In den ersten drei Teilen wird es um die Dunkle Materie gehen – den unsichtbaren Elefanten der Kosmologie.

Wie im ersten Teil über Dunkle Materie erläutert, gibt es eine ganze Reihe von Beobachtungen, die darauf hindeuten, dass die sichtbaren Galaxien nur der Schaum auf einem Meer aus unsichtbarer Materie sind. Aber welche Art von Materie könnte das sein? Der einfachste Ansatz wäre natürlich, dass es sich um gewöhnliche Materie aus Atomen in irgendeiner nichtleuchtenden Form handelt. Das Weltall war nach der Entstehung angefüllt mit Gas, das beim Urknall entstand, den Löwenanteil gebildet von Wasserstoff mit einem Anteil der Masse von 76 Prozent gemischt mit 24 Prozent Helium, Spuren von Deuterium, Lithium und Beryllium, die beim Urknall entstanden sind. Vielleicht gibt es noch große Mengen Gas, das die Galaxien umgibt und die Zwischenräume zwischen ihnen ausfüllt?

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Tatsächlich findet man mit Hilfe von Röntgenteleskopen heißes Gas zwischen den Galaxien, sogar ein Mehrfaches der Masse der Galaxien selbst, aber nur 1/6 der Menge, die nötig wäre, um die Galaxienhaufen zusammenzuhalten. In der Milchstraße entstehen aus Gas und Staub neue Sterne, die die Spiralarme blauweiß leuchten lassen. Gegen die Silhouette der Milchstraße kann man mit bloßem Auge schon dunkle Bänder erkennen, in denen Staub früherer Sterngenerationen die Sterne im Hintergrund abdunkelt. Anhand der Verfärbung und Verdunklung des Lichts dahinterliegender Sterne kann man die Teilchengröße und -dichte bestimmen und damit ihre Masse.

Kaltes Wasserstoffgas verrät sich wiederum durch seine 21-cm-Strahlung und erzeugt im Durchlicht vor Sternen Absorptionslinien im Spektrum, die leicht von denen einer heißen Sternoberfläche zu unterscheiden sind. Fazit: der Staub macht nur 1 Prozent der Masse des interstellaren Mediums aus und dieses wiederum nur einen Bruchteil der gesamten Masse. In den Galaxien wiederum ist das Verhältnis zwischen der Gesamtmasse und derjenigen von Gas und Staub noch extremer als in Galaxienhaufen: lediglich 1/20 bis 1/400 der Masse im Kernbereich einer Galaxie entfällt auf Gas und Staub. Gerade dort ist die Schwerkraft der Dunklen Materie am größten.

Auch der im letzten Teil vorgestellte Bullet-Cluster spricht gegen Gas und Staub als Träger der Dunklen Materie. Dort stießen zwei Galaxienhaufen zusammen, wobei allerdings nur das großräumig verteilte Gas miteinander kollidierte, während die viel kompakteren Galaxien und Sterne einfach aneinander vorbei flogen – wie auch die Dunkle Materie, deren Gravitationslinsenwirkung auf Hintergrundobjekte verrät, dass sie bei den Galaxien geblieben ist und nicht an der Kollision des Gases teilgenommen hat.

Es ist viel leichter, Staubteilchen oder Wasserstoffgas nachzuweisen, als massivere Objekte wie Asteroiden und Planeten, denn erstere haben eine sehr viel größere Oberfläche und Ausdehnung bei gleicher Masse. Den Bullet-Cluster könnte man problemlos erklären, wenn die Dunkle Materie aus zahllosen unentdeckten Neutronensternen, Schwarzen Löchern, Braunen Zwergen oder Planemos (Planetary Mass Objects – Objekte planetarer Masse) bestünde. Zwischen ihnen wäre genug Zwischenraum, um sich kollisionsfrei passieren zu können. Der Astronom Kim Griest prägte für diese Objekte den Begriff MACHOs – "Massive Compact Halo Objects", um sie von der konkurrierenden Theorie schwach wechselwirkender Teilchen abzugrenzen (WIMPs – Weakly Interacting Massive Particles, wobei "wimp" auf Englisch "Schwächling" bedeutet).

Ende der 1980er schlugen Bohdan Paczynski und Robert Nemiroff vor, dass man den Gravitationslinseneffekt nutzen könne, um MACHOs aufzuspüren und ihre Anzahl zu schätzen. Ähnlich wie beim Gravitationslinseneffekt von Galaxien lenken auch kleinere Objekte das Licht von weiter entfernten Lichtquellen (zum Beispiel Hintergrundsternen) geringfügig durch ihre Gravitation ab. Durch Lichtbündelung erscheinen diese während ihres Wochen bis Monate dauernden Transits heller, was als "Mikrolinsen-Ereignis" bezeichnet wird. Die Astronomen errechneten, dass man auf diese Weise Objekte zwischen 100 Sonnenmassen und etwa der Masse des Mondes im Halo der Milchstraße würde aufspüren können, wenn man ein hinreichend dichtes Sternfeld im Hintergrund hätte, wie etwa die Magellanschen Wolken, zwei Satellitengalaxien der Milchstraße. Bestünde die gesamte Dunkle Materie im Halo aus solchen Objekten, dann befände sich zu jeder Zeit im Schnitt einer von 1 bis 2 Millionen Hintergrundsternen gerade in einem Mikrolinsen-Ereignis.

Das Prinzip eines Gravitations-Mikrolinsen-Ereignisses: ein dunkles Vordergrundobjekt lenkt das Licht eines dahinterliegenden Sterns ab und bündelt es kurzfristig in Richtung des Beobachters. Dadurch nimmt die Helligkeit des Sterns zu (Lichtkurve unten rechts).

(Bild: NASA Ames/JPL-Caltech/T. Pyle)

Drei Beobachtungsprojekte, (MACHO, 1992-1999), EROS (Experience pour la Recherche d'Objets Sombres, 1990-2003) und OGLE (Optical Gravitational Lensing Experiment, seit 1992) machten sich auf die Suche nach Mikrolinsen-Ereignissen in der Großen Magellanschen Wolke und wurden bald fündig. Nach den ersten Entdeckungen glaubte man 1993, das Dunkle-Materie-Problem sei gelöst. Projekt MACHO fand alleine in 5,7 Jahren rund 15 Ereignisse, eine Ereignisdichte, die konsistent mit bis zu 50 Prozent der Halomasse der Milchstraße war. EROS fand jedoch in 6,7 Jahren nur ein einziges Ereignis und schloss daraus, dass höchstens 8 Prozent der Halomasse aus MACHOs bestehen können. OGLE dauert bis heute an und das Projekt MOA (Micolensing Observations in Astrophysics) startete 2006, beide mit dem eigentlichen Ziel, nach Exoplaneten zu suchen, aber ihre zusätzliche Ausbeute an MACHOs blieb so mager, dass diese mittlerweile als Erklärung für die Dunkle Materie vom Tisch sind.

Und wenn es noch kleinere Objekte wären? Asteroiden und Kometen wären beispielsweise zu klein, um einen messbaren Gravitationslinseneffekt zu verursachen. Eine Bewertung dieser Hypothese kommt aus einer völlig anderen Ecke.

Woher stammt eigentlich das zweithäufigste Element Helium in der Sonne? Es macht 25 Prozent der Sonnenmasse aus. Zwar erbrütet die Sonne bei der Wasserstofffusion in ihrem Kern Helium, aber nur ein kleiner Teil der Sonnenmasse nimmt an der Fusion teil und es gibt keine Umwälzung bis hinauf an ihre Oberfläche, wo wir das Helium im Spektrum beobachten. Tatsächlich enthält schon das interstellare Gas einen Anteil von 25 Prozent Helium. 1995 wies die vom Space Shuttle Endeavour durchgeführte Mission Astro-2 das Helium im Vordergrund eines Quasars in einer Lichtlaufzeitentfernung von 11,3 Milliarden Lichtjahren nach. Das Gas befindet sich zwischen dem Quasar und dem Beobachter und verursacht rotverschobene Absorptionslinien im Quasarspektrum, aus deren Tiefe sich die Teilchendichte bestimmen lässt. Auch Deuterium, schwerer Wasserstoff mit einem Neutron und einem Proton im Kern, sowie kleine Mengen Lithium finden sich im ursprünglichen ("primordialen") Gas. Deuterium und Lithium werden nicht in Sternen gebildet, sondern in deren Fusionsprozessen sogar zerstört.

Helium, Deuterium und Lithium müssen also schon beim Urknall entstanden sein; man spricht von der "Big Bang Nukleosynthese" (BBN) oder "primordialen Nukleosynthese". Mit Hilfe des Standardmodells der Quantenphysik (mehr dazu später), kann man rekonstruieren, wie sie gebildet wurden. Eine Millionstel Sekunde nach dem Urknall kondensierten bei Temperaturen von einer Billion Kelvin Protonen und Neutronen aus dem vorherigen Quark-Gluonen-Plasma. Zunächst sorgten Prozesse der schwachen Wechselwirkung dafür, dass sie sich ständig im gleichen Verhältnis ineinander umwandelten und auf jedes Proton ein Neutron kam. Mit zunehmender Abkühlung überwog zunehmend der Prozess, der Neutronen in Protonen umwandelte, gegenüber dem Umkehrprozess.

Eine Sekunde nach dem Urknall war das Universum auf 10 Milliarden Kelvin abgekühlt und die Umwandlungsprozesse verebbten bei einem Verhältnis von sechs Protonen je Neutron. Kollidierende Neutronen und Protonen begannen, sich zu Deuteriumkernen (²H) zu vereinigen, die oberhalb von 3 Milliarden Kelvin jedoch immer wieder zerstört wurden, denn gemäß der Planckschen Strahlungskurve war bei dieser Temperatur jedes zehnmilliardste Photon so energiereich, dass es die Bindungsenergie von Proton und Neutron aufbrachte (2,2 Megaelektronenvolt) und jeden Deuteriumkern, der ihm in den Weg kam, sofort zertrümmerte. Bei etwa 10 Milliarden Photonen pro Kernteilchen gab es nur kurzlebiges Deuterium.

Entstehung der Elemente bis zum Beryllium bei der Urknall-Nukleosynthese. Die Farben der Pfeile symbolisieren die Häufigkeiten der Fusionsreaktionen gemäß der Legende rechts. Die schwarzen Quadrate zeigen die stabilen Elemente an, während die grauen für radioaktive Isotope derselben stehen. Das "n" steht für freie Neutronen, ihrerseits instabil. Die Zahl der Protonen im Kern ist pro Zeile gleich, ganz unten beim Neutron 0, dann 1, 2, 3 und 4. Die hochgestellten Zahlen vor den Elementen zeigen ihr Atomgewicht in Kernteilchenmassen an. ²H ist Deuterium, ³H ist Tritium. Diese Zahl minus der Protonenzahl ergibt die Zahl der Neutronen im Kern.

(Bild: Hou et al.)

Ohne Deuterium mit seinem Neutron als Klebstoff können aber keine schwereren Elemente gebildet werden, denn zwei Protonen stoßen sich aufgrund ihrer positiven elektrischen Ladungen zu stark voneinander ab, um durch die ihn ebenfalls innewohnende anziehende starke Kernkraft zusammenhalten zu können. Erst 10 Sekunden nach dem Urknall bei unter 3 Milliarden K begann das Deuterium lange genug zu überleben, um entweder mit einem weiteren Proton das Isotop ³Helium zu bilden, oder mit einem weiteren Neutron das radioaktive Tritium, auch als überschwerer Wasserstoff bekannt (³H). Das instabile Tritium gibt sein nur lose gebundenes zweites Neutron bereitwillig wieder an einen vorbei kommenden ³Helium-Kern ab, der sich somit in stabiles 4Helium wandelt, während das Tritium wieder zu Deuterium mutiert.

Nach etwa drei Minuten, waren fast alle Neutronen verbraucht und in 4Helium-Kernen gebunden. Freie Neutronen, die nicht in einem Atomkern gebunden sind, sind instabil. Sie zerfallen mit einer Halbwertszeit von rund 10 Minuten zu einem Proton (plus einem Elektron und einem Neutrino). Wie bei jeder Form von Radioaktivität kann ein bestimmtes Neutron der Zerfall auch sehr viel früher (oder sehr viel später) ereilen, so dass der Zerfall freier Neutronen in den ersten drei Minuten das Verhältnis aller Neutronen zu Protonen auf ca. 1/7 fallen ließ. Das heißt, zwei von 16 Teilchen waren Neutronen, die zum größten Teil zusammen mit je zwei Protonen in einem 4He-Kern verbaut waren. Verblieben 12 ungebundene Protonen – das macht 12/16=75 Prozent Massenanteil Wasserstoff und 4/16=25 Prozent Anteil 4Helium. Außerdem verblieben 1/100.000 Restanteil Deuterium, 1 Millionstel ³Helium und 1/10 Milliardstel Lithium.

Das geht allerdings nur so auf für ein Verhältnis von Protonen zu Neutronen von 1/7. Dafür ist wesentlich, wie viele Photonen 10 Sekunden nach dem Urknall, als das Deuterium entstand, auf jeden Deuteriumkern kamen. Bei der damaligen Temperatur hatte statistisch eines von 10 Milliarden Photonen genug Energie, einen Deuteriumkern zu zertrümmern. Hätte es weniger Photonen gegeben, so hätte Deuterium länger überlebt, weniger freie Neutronen wären zerfallen, und mehr Helium wäre gebildet worden. Mehr Photonen hätten entsprechend weniger Helium entstehen lassen. Die Photonen gingen nicht verloren, sondern blieben im Plasma gefangen, sie wurden unzählige Male gestreut, absorbiert und wieder emittiert, aber sie wurden nicht weniger. Sie wurden mit der Raumexpansion immer langwelliger und energieärmer und endeten schließlich als kosmische Hintergrundstrahlung, die wir heute als Mikrowellen auffangen können. Somit können wir bestimmen, wie viele Photonen es damals gegeben hatte.

Man kann ausrechnen, dass auf jedes Kernteilchen ungefähr 10 Milliarden Photonen kommen mussten, um das beobachtete Verhältnis von Wasserstoff zu Helium (plus übrige Kerne) hervorzubringen. Somit folgt sofort die Dichte der Baryonen, die bis heute erhalten blieben.

Theoretische Abhängigkeit des Anteils von ³Helium, 4Helium, Deuterium und Lithium (relativ zum Wasserstoff) von der Baryonendichte (x-Achse) während der primordialen Nukleosynthese. Das gelb-blaue senkrechte Band gibt den Bereich an, in dem die relativen Häufigkeiten aller 4 Elemente den heutigen Messwerten entsprechen. Gelb und Blau unterscheiden die Messungen zweier verschiedener Teams. Die schmale senkrechte Linie rechts gibt die für die heute beobachtete Expansion des Weltalls notwendige Materiedichte an. Die bayronische Materie reicht bei weitem dafür nicht aus, es fehlt ungefähr ein Faktor 20.

(Bild: Schramm & Turner)

Rechnen wir die Masse der Baryonen zusammen, so finden wir, dass sie nur 1/5 der Masse ausmachen können, die wir in den Galaxienhaufen vorfinden. Da aber alle gewöhnliche Materie aus Atomen und damit Baryonen besteht, die fast ihre gesamte Masse bilden (die leichten Elektronen spielen kaum eine Rolle), kann die Dunkle Materie keine gewöhnliche Materie sein – kein Staub, keine erloschenen Sterne und auch keine Asteroiden.