Missing Link: Das Rätsel Dunkle Materie – auf der Jagd nach einem Gespenst

Seite 4: Blinder Axionismus?

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Die Quantenchromodynamik (QCD) ist eine Disziplin der Quantenphysik, die sich mit der von den Gluonen vermittelten starken Wechselwirkung zwischen den Quarks beschäftigt und diese mit hoher Präzision beschreibt. Sie hat allerdings einen Schönheitsfehler, denn sie sagt voraus, dass das Neutron eigentlich ein elektrischer Dipol sein müsste. Das Neutron besteht aus einem Up-Quark mit +2/3 Elementarladungen und zwei Down-Quarks mit je -1/3 Elementarladung. Die Anordnung der Quarks lässt sich durch einen Winkel θ (kleines griechisches Theta) charakterisieren (siehe Bild). Bei fast allen Werten von θ wäre das Neutron ein Dipol, das heißt eine Seite (wo sich das Up aufhält) wäre positiv geladen, die gegenüberliegende Seite entsprechend negativ.

(Bild: Anson Hook))

Allen Messungen gemäß hat das Neutron jedoch kein Dipolmoment, und das bedeutet, dass die Anordnung der Quarks im Schnitt nahezu so aussehen muss:

(Bild: Anson Hook)

θ ist hier 180°. Aber warum sollte dieser Winkel stabil sein? Roberto Peccei und Helen Quinn schlugen 1977 vor, dass der Wert von θ von einem Quantenfeld bestimmt wird, das bei 180° seinen kleinsten, stabilsten Wert hat. Wie alle quantenphysikalischen Felder hat auch dieses Feld ein zugehöriges Anregungsteilchen, genannt Axion. Das Axion wäre ein weiteres Boson mit einer winzigen Masse in der Größenordnung von vielleicht 10 bis 1000 Millionstel eV/c². Axionen wären stabil und könnten in sehr großer Zahl beim Urknall gebildet worden sein. Als Bosonen unterliegen sie nicht dem Pauli-Prinzip und könnten beliebig dicht gepackt werden. Sie könnten sogar in solcher Dichte entstanden sein, dass das frühe Universum an den meisten Orten gleich wieder kollabierte und nur wenige Zonen mit geringerer Dichte könnten expandiert sein und ein Universum hervorgebracht haben, in dem es uns geben kann.

Das Axion wäre kein WIMP, sondern ein "WISP" (Weakly Interacting Sub-eV Particle), es würde die schwache Wechselwirkung spüren, aber wegen seiner geringen Energie dennoch nicht mit Kernteilchen oder Elektronen interagieren. Es wäre auch nicht vollkommen "dunkel", sondern könnte durchaus elektromagnetisch interagieren, allerdings ähnlich selten wie das Neutrino schwach wechselwirkt. In einem sehr starken Magnetfeld könnten Axionen sich zu Photonen umwandeln und umgekehrt. Ein Prinzip von Experimenten versucht, kosmische Axionen extrem hohen Magnetfeldern auszusetzen, um daraus nachweisbare Mikrowellen-Photonen entstehen zu lassen, die in einem Resonanzgefäß festgehalten und so aufaddiert werden.

Bei HAYSTAC (Haloscope At Yale Sensitive To Axion CDM) und ADMX (Axion Dark Matter Experiment) lauscht (oder besser spinkst) man nach den Axionen des Milchstraßenhalos; bei ALPS II (Any Light Particle Search II) und OSQAR (Optical Search for QED Vacuum Bifringence, Axions and Photon Regeneration) am CERN versucht man hingegen, die Axionen zum Nachweis in ausreichender Menge selbst zu produzieren: starke Laserstrahlen sollen bei großen Magnetfeldstärken einige Photonen in Axionen umwandeln, die im Gegensatz zum Laserlicht eine massive Wand durchdringen können, hinter der sie wieder rückgewandelt in Photonen detektiert werden sollen. Schließlich gibt es Vorschläge, nach der Strahlung von im Magnetfeld von Neutronensternen umgewandelten Axionen zu suchen – insbesondere Magnetare übertreffen die Feldstärken der stärksten irdischen Magnete teils um das Hundertmillionenfache.

Im vergangenen Jahr ließ jedoch das bereits genannte XENON-Experiment die Fachwelt aufhorchen, dem der Nachweis von besonders energiereichen Axionen (1-7 keV/c²) aus dem Inneren der Sonne gelungen sein könnte. Allerdings könnte auch eine Verunreinigung des Detektormaterials mit radioaktivem Tritium ein ähnliches Signal produzieren – hier müssen noch weitere Daten mit dem aktuellen, empfindlicheren XENONnT-Detektor gesammelt werden, um sicher zu sein.

Und wenn sie nicht einmal schwach wechselwirken? Nach dem Standardmodell gibt es drei Arten von Neutrinos (auch Flavours – Geschmäcker – genannt): Elektron-, Myon- und Tau-Neutrinos. Sie heißen so, weil sie bei Prozessen entstehen, bei denen die selbigen Teilchen zusammen mit ihnen entstehen. Ursprünglich hielt man die drei Neutrinoarten für voneinander unabhängige Teilchen, die wie das Photon keine Ruhemasse haben und daher immer mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs sein müssen. Als man mit großen Detektoren Neutrinos auffing, die aus den Kernfusionsreaktionen im Inneren der Sonne hervorgegangen waren, fand man jedoch nur 1/3 der erwarteten Elektron-Neutrinos (die Detektoren waren blind für die anderen Neutrinoarten).

Das Rätsel konnte Ende der 1990er gelöst werden, als Experimente ergaben, dass die Neutrinoarten sich ineinander umwandeln: Die in der Sonne erzeugten Elektron-Neutrinos haben sich auf dem Weg zur Erde zum Teil in die anderen Flavours umgewandelt und nur ein Drittel von ihnen befindet sich im Detektor gerade im Zustand "Elektron-Neutrino". Der Wandel-Mechanismus erfordert, dass sie eine Ruhemasse haben, und die spezielle Relativitätstheorie verlangt von Teilchen mit Ruhemasse, dass sie langsamer als das Licht unterwegs sein müssen.

Neutrinos sind ein typisches Beispiel dafür, was Quantenobjekte von klassischen Objekten unterscheidet: Sie sind nicht kleine Kügelchen mit festen Eigenschaften wie etwa einer bestimmten Masse, sondern sie befinden sich in einem quantenmechanischen Zustand der Überlagerung. Und zwar überlagern sich bei ihnen sogenannte "Eigenzustände" der Masse, deren Mischungsverhältnis oszilliert (schwingt), so dass mal der eine und mal die anderen beiden Flavours in der Überlagerung zum Vorschein kommen. Die Neutrinoflavours wandeln sich über eine Strecke ineinander um, die umso kleiner ist, je größer die Differenz der Quadrate ihrer Massen-Eigenzustände ist (wären zwei Neutrinomassen Null, dann wäre die Differenz ihrer Massenquadrate 0 und diese Strecke unendlich, ergo würden sie sich nicht umwandeln können, daher wissen wir, dass mindestens zwei Neutrinomassen größer als 0 sein müssen).

Veranschaulichung der Oszillation von frisch produzierten Elektron-Neutrinos (schwarz) in Myon- (blau) oder Tau-Neutrinos (rot). Auf der y-Achse die Wahrscheinlichkeit jedes Neutrino-Flavours, ihn in einer bestimmten Entfernung von der Quelle anzutreffen, und auf der x-Achse die Entfernung von der Quelle dividiert durch die Energie der Neutrinos in Gigaelektronenvolt. Da die Neutrinomassen noch nicht bekannt sind, beruht das errechnete Diagramm auf hypothetischen Werten, siehe Link zur Bildquelle.

(Bild: Wikimedia Commons)

Durch Messung der Umwandlungsstrecken versuchen Physiker, auf die Massen rückzuschließen, so zum Beispiel mit dem MiniBooNE-Experiment am Fermilab in der Nähe von Chicago. Dort misst man mit einer 500 Meter vom Detektor entfernten Myon-Neutrinoquelle, wie viele Myon- und Elektron-Neutrinos im Detektor aufgefangen werden, um so über die Statistik auf die Umwandlungsstrecke zu schließen. Über diese kurze Strecke sollte sich nur eine kleine Zahl von Myon-Neutrinos in Elektron-Neutrinos umwandeln. 2018 fand das Fermilab-Team jedoch deutlich mehr Elektron-Neutrinos als erwartet.

Dies ließe sich durch mindestens eine vierte Neutrinoart mit großer Masse erklären, die zusätzliche Umwandlungen verursacht, und es gibt Theorien, die die kleine Masse der drei leichten Neutrinos mit drei schweren (1-100 keV/c²) rechtshändigen Neutrinos erklären (vgl. Hierarchieproblem oben). Diese können zudem nicht schwach wechselwirken, denn sonst gäbe es zusätzliche Quarks und Leptonen, mit denen sie entsprechend den Elektron-, Myon- und Tau-Neutrinos spezifische Interaktionen der schwachen Wechselwirkung eingehen würden – und die hätte man längst gefunden. Deswegen nennt man sie "sterile Neutrinos", im Gegensatz zu den drei bekannten "aktiven" Neutrinos.

Nicht schwach wechselwirkende Neutrinos hoher Masse wären in keinem herkömmlichen Neutrinodetektor nachzuweisen, sondern nur über ihre Schwerkraftwirkung auf kosmologische Objekte, was es sehr schwer machen würde, sie als Träger der Dunklen Materie dingfest zu machen. Das Experiment Katrin versucht, Neutrinos zu "wiegen", die beim radioaktiven Zerfall entstehen, indem die Energien der außerdem entstehenden Teilchen gemessen werden – was bei diesen an Differenz zur bekannten Zerfallsenergie fehlt, muss im Neutrino stecken, und hier sucht man die untere Grenze. Dabei könnten auch sterile Neutrinos entstehen und sich wiegen lassen.

Möglicherweise sind sie auch nicht stabil; dies sagen einige Theorien voraus, denen gemäß sie mit einer Halbwertszeit von weit mehr als dem Alter des Universums in 2 Photonen zerfallen können. Statistisch gesehen müsste ein kleiner Teil von ihnen dann auch schon heutzutage zerfallen und wir könnten die Strahlung theoretisch aufspüren. 2014 beobachteten mehrere Teams tatsächlich mit den Weltraum-Röntgenteleskopen Chandra, XMM-Newton, NuStar und Suzaku eine nicht-thermische Strahlungsspitze von 3,55 keV an Photonenenergie in der Andromeda-Galaxie, mehreren Galaxienhaufen und dem Zentrum der Milchstraße, was für die Existenz eines sterilen Neutrinos von 7,1 keV/c² sprechen könnte. Falls sich keine einfachere Erklärung findet.

Es gibt also durchaus ein paar Kandidaten für die Dunkle Materie, aber vielleicht ist das entscheidende Teilchen auch noch gar nicht erdacht. Manche werfen den Quantenphysiker vor, sie hätten sich mit ihren Modellen verrannt und ihre Suche nach einfachen, symmetrischen Lösungen sei voreingenommen – die Welt sei nicht notwendigerweise einfach, schön und symmetrisch. Wir können aber ziemlich sicher sein, dass das Standardmodell der Teilchenphysik nicht das letzte Wort in Sachen Elementarteilchen sein wird. Vielleicht stehen wir kurz vor einem Durchbruch, vielleicht erlebt auch niemand unserer Zeitgenossen die Entdeckung des oder der Dunkle-Materie-Teilchen. Die meisten Kosmologen halten an der Teilchentheorie fest, weil zusätzliche Teilchen fast unvermeidlich sind, um einige quantenphysikalische Probleme zu lösen. Vielleicht sind es auch mikroskopische primordiale Schwarze Löcher. Oder eine Kombination aus beiden. Vielleicht gibt es sie aber auch gar nicht und die beobachteten Effekte haben eine ganz andere Erklärung. Mit möglichen Alternativen beschäftigen wir uns im dritten und letzten Teil über die Dunkle Materie.

Quellen:

(mho)