Missing Link: Das Rätsel Dunkle Materie – auf der Jagd nach einem Gespenst

Seite 3: Was heißt hier "dunkel"?

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Wenn man über das Standardmodell hinaus gehen will, braucht man neue Teilchen, da es in sich abgeschlossen ist. Ihre Postulierung ist deshalb nicht abstrus, sondern im Gegenteil natürlich. Sie werden regelrecht benötigt. Es gibt es ganze Palette von vorgeschlagenen Erweiterungen, mit denen man die obigen Probleme (und weitere) erklären könnte. Dass wir diese Teilchen nicht schon lange kennen, lässt sich damit begründen, dass sie mit den bekannten Teilchen nicht oder nur sehr selten interagieren. Die größte Reichweite unter den in der Quantenwelt wirkenden Kräften hat die elektromagnetische Kraft. Deswegen verraten sich Teilchen, die elektromagnetisch wechselwirken, sofort – sie interagieren mit Protonen, Neutronen (die im Kern elektrisch geladene Quarks enthalten) oder Elektronen, stoßen und streuen sie, sorgen oft für das Aussenden von Licht oder schlagen Elektronen aus Atomen oder Kernteilchen aus Atomkernen.

Erheblich kleiner ist die Reichweite der schwachen Wechselwirkung, an der alle bekannten Teilchen partizipieren, allerdings nur, wenn sie sich extrem nahe kommen. Alle Fermionen spüren die elektromagnetische Kraft – außer den Neutrinos, die nur für die schwache Wechselwirkung empfänglich sind. Sie sind in diesem Sinne "dunkel". Und genau deswegen ist das Neutrino so schwer nachzuweisen. Ein Neutrino könnte im Mittel einen Block aus Blei mit einer Länge von einem Lichtjahr (10 Billionen Kilometer!) durchfliegen, bevor es einem Blei-Atomkern nahe genug käme, um mit ihm über die schwache Wechselwirkung zu interagieren. Und dazu muss die Teilchenenergie auch noch passend sein; wie bei den Elektronen in den Schalen von Atomen mögen die Teilchen im Kern nicht mit Teilchen beliebiger Energie interagieren. Es ist also durchaus möglich, dass es schwach wechselwirkende Teilchen gibt, die wir bisher noch in keinem Experiment gesehen haben. Und solche Teilchen könnten in hinreichender Zahl die Dunkle Materie bilden.

Aber wie sieht es mit den Neutrinos selbst aus? Könnten sie nicht die Dunkle Materie bilden? Die Idee ist verlockend. Es gibt sie in extrem großer Zahl und sie haben genau die gesuchte Eigenschaft, mit Materie so gut wie nicht zu interagieren und stabil zu sein. Sie könnten bei der Materie-Antimaterie-Zerstrahlung in großer Zahl übrig geblieben sein. Hätten sie eine Masse von nur 10 Elektronenvolt/c², dann wären sie schwer genug, um die Dunkle Materie zu bilden (Elektronen haben hingegen eine Masse von 511.000 eV/c²). Diese Theorie wurde bis in die 1980er ernsthaft diskutiert.

Wir wissen heute, dass Neutrinos eine Ruhemasse haben müssen, aber die letzten Messungen schließen bereits einen Wert von mehr als 0,8 eV/c² aus – das ist so wenig, dass sie sich aus quantentheoretischen Gründen nicht einmal dicht genug packen lassen würden, um die gemessene Dichte der Dunklen Materie aufzubringen (Pauli-Prinzip der Fermionen). Außerdem sind sie stets mit fast Lichtgeschwindigkeit unterwegs, sodass kein Galaxienhaufen sie festhalten könnte. Man spricht bei schnellen Teilchen von "heißer Dunkler Materie". Gesucht wird "kalte" oder höchstens "warme" mit langsamen, schweren Teilchen. Und die findet man nicht im Standardmodell.

Im Frühjahr dieses Jahres ging eine Meldung durch die Presse, dass das magnetische Moment des Myons mit hoher Präzision am Fermilab gemessen wurde und es in der achten signifikanten Stelle vom theoretischen Wert laut Standardmodell abweiche – Myonen sind kurzlebig und die Messung ihres magnetischen Moments ist schwieriger als beim Elektron, aber die Abweichung vom theoretischen Wert ist hier 1000-Mal größer als beim 200-Mal leichteren Elektron und sie ließe sich durch neue, nicht im Standardmodell enthaltene Teilchen erklären – oder alternativ dadurch, dass der numerisch ermittelte theoretische Wert bislang falsch berechnet wird. Aber vielleicht ist dieses Experiment der erste Hinweis auf neue Teilchen jenseits des Standardmodells.

Um neue Teilchen zu finden, muss man eine Theorie darüber haben, welche Eigenschaften sie haben sollen, damit man Experimente entwerfen kann, mit denen man gezielt nach ihnen suchen kann. Die Supersymmetrie (SuSy) erschien ursprünglich als vielversprechender Ansatz. Ihre Motivation ist die folgende: Das Elektron ist im Rahmen der Messgenauigkeit punktförmig. Es hat ein elektrisches Feld, dessen Feldstärke mit fallendem Abstand zunimmt. In einem elektrischen Feld steckt Energie. Wenn das Elektron ein Punkt ist, müsste das elektrische Feld an der Stelle des Elektrons unendlich stark werden und unendlich viel Energie enthalten, was nicht stimmen kann. Rechnet man die Ausdehnung aus, die das Elektron gemäß seiner Energie (511 kev/c²) eigentlich haben müsste, kommt man auf einen Durchmesser, der größer als derjenige des Protons ist – was auch falsch ist. Tatsächlich rettet die Existenz seines Antiteilchens, des Positrons, die Kalkulation.

In der Quantenfeldtheorie produziert das Elektron sein Antiteilchen als virtuelles Teilchen mit umgekehrter Ladung, das sein eigenes Feld teilweise kompensiert, ohne ansonsten in Erscheinung zu treten. Virtuelle Teilchen "borgen" sich im Rahmen der Heisenbergschen Unschärferelation kurzfristig Energie aus dem Vakuum, die sie, je größer die Energie ist, nach umso kürzerer Zeit wieder durch ihre Auflösung zurückgeben müssen. Löst man die Quantenfeldgleichungen unter Berücksichtigung des virtuellen Positrons, ergibt sich die winzige Größe.

Ein ähnlicher Mechanismus könnte das Hierarchieproblem lösen, warum die Teilchenmassen so viel kleiner sind als die Planck-Masse. Dazu bedürfte es zu jedem Fermion eines "Superpartners" mit gleichen Quantenzahlen, aber mit ganzzahligem Spin, also eines Bosons (Austauschteilchen), sowie zu jedem Boson eines entsprechenden Partners mit halbzahligem Spin, eines Fermions (Materieteilchen). Virtuelle Superpartnerteilchen würden die Massen der Standardmodell-Teilchen bis auf einen kleinen Restbetrag kompensieren können. Mit SuSy ließe sich zudem die Materie-Antimaterie-Asymmetrie sowie weitere Probleme der Quantenphysik lösen, wie etwa die so unterschiedlichen Stärken der vier Grundkräfte, die in den "Großen Vereinheitlichenden Theorien" bei hohen Temperaturen in einer einzigen Kraft aufgehen sollen.

Die Superpartner wären alle vergleichsweise massereich, deswegen hätten sie sich in Beschleunigern noch nicht blicken lassen. Denn diese müssten die zu ihrer Erweckung als nicht-virtuelle Teilchen nötige Energie durch die Kollision viel leichterer Standardmodellteilchen aufbringen. Unter ihnen wären einige elektrisch neutrale Fermionen, die nur die schwache Wechselwirkung spürten und somit als Dunkle-Materie-Teilchen infrage kämen, etwa die elektrisch neutralen Superpartner des Photons (Photino), des Z-Bosons (Zino), oder des Higgs-Bosons (Higgsino), zusammen auch als "Neutralinos" bezeichnet. In der Natur entstanden, würden die meisten von ihnen rasch in leichtere Teilchen zerfallen. Zumindest das leichteste Neutralino (welches von den genannten Kandidaten es auch immer sei) sollte jedoch stabil sein.

Die Standard- und SuSy-Teilchen des "Minimalen Supersymmetrischen Standardmodells" MSSM, einer einfachsten vorgeschlagenen Variante der Supersymmetrie. In dieser gibt es noch ein zweites, schwereres Higgs-Teilchen auf der Standardmodell-Seite. Die Superpartner der Fermionen heißen Squarks und Sleptonen (allen Standard-Teilchen wird im Namen des Superpartners ein S vorangestellt, z.B. Sup-Quark, Selektron, Stau-Neutrino), diejenigen der Bosonen enden auf ~ino (Photino, Gluino, Zino, Wino, Higgsino).

(Bild: Dmitry Kazakov)

Der Nachweis dieser Teilchen sollte ähnlich wie bei den Neutrinos über die schwache Wechselwirkung erfolgen. Wenn die Dunkle Materie aus Elementarteilchen bestünde, dann müsste es zum Aufbringen der nötigen Masse so viele davon geben, dass man sie auch auf der Erde finden sollte. Neutralinos sollten in geeigneten Detektoren hin und wieder mit einem Atomkern oder einem Elektron interagieren, wenn sie ihm nur nahe genug kämen; man spricht vom energieabhängigen "Wirkungsquerschnitt" eines Teilchens, das ist die gedachte Kreisfläche um das Teilchen herum, innerhalb deren ein passierendes anderes Teilchen der entsprechenden Energie mit dem Teilchen interagieren kann.

Eine ganze Reihe von Detektoren wurde gebaut, tief unter der Erde oder im Inneren von Bergen, um gewöhnliche Standardmodell-Teilchen der kosmischen Strahlung abzuschirmen, überwacht von Sensoren für ultraviolette Tscherenkow-Strahlung, radioaktive Strahlung, Ionisation und bei Zerfällen freiwerdende Wärme. Einige verwenden als Detektormedium knapp unter die Temperaturschwelle der Supraleitung gekühlte dotierte Kristalle, so dass eine Reaktion die Supraleitung lokal messbar unterbricht, wie etwa CDMS (Cryogenic Dark Matter Search), EDELWEISS (Experience pour DEtecter Les Wimps En Site Souterrain) oder CRESST (Cryogenic Rare Event Search with Superconducting Thermometers), andere setz(t)en auf flüssiges Xenon als Detektormedium, z.B. LUX (Large Underground Xenon experiment), LZ (LUX-ZEPLIN) und XENON.

Durch wachsende Detektorvolumina und empfindlichere Sensorik wurde der für Interaktionen noch zulässige Wirkungsquerschnitt über die Jahrzehnte immer weiter verkleinert, aber keine schwachen Interaktionen mit supersymmetrischen Teilchen nachgewiesen. Auch mit dem LHC-Beschleuniger am CERN, mit dem man fest erwartet hatte, wenigstens das leichteste supersymmetrische Teilchen erzeugen zu können, fand man nichts.

Entwicklung des messbaren Wirkungsquerschnitts für ein hypothetisches 50 GeV/c² Dunkle-Materie-WIMP-Teilchen. Seit 1985 haben Experimente den noch möglichen Querschnitt auf ein 10 bis 100 Millionstel verkleinert: innerhalb dieser Fläche um ein hypothetisches Teilchen traten keine messbaren Wechselwirkungen mit den Teilchen im Detektormedium ein. Die unterschiedlichen Symbole spiegeln die verwendeten (gefüllte Symbole) bzw. 2013 geplanten (hohle Symbole) Detektortechnologien wider, von einfachen Kristallen (Quadrate) über supraleitende Kristalle (Kreise), flüssiges Xenon (Dreiecke), flüssiges Argon (Rauten) bis zu Schwellwert-Detektoren (umgedrehtes orangefarbenes Dreieck). Bis heute hat auch keines der 2013 noch geplanten Experimente ein WIMP-Teilchen nachgewiesen.

(Bild: Dmitry Kazakov, 2013)

Lediglich das Experiment DAMA/NaI (heute: DAMA/LIBRA) am Gran Sasso Laboratorium in der italienischen Region Abruzzen östlich von Rom konnte eine heute noch beobachtete jahreszeitliche Variation eines Signals vermelden, wie man sie erwarten würde, wenn die Erde sich beim Umlauf um die Sonne mit variierender Geschwindigkeit durch die Dunkle Materie der Milchstraße bewegte. Ein anderes, gleichartiges Experiment ANAIS konnte das Ergebnis jedoch nicht reproduzieren und da auch die vorgenannten, empfindlicheren Experimente nichts gesehen haben, dürfte es sich bei DAMA um irgendeinen anderen Effekt oder Fehler handeln. Die Supersymmetrie gilt vielen Physikern mittlerweile als tot. Tatsächlich könnten die Superpartner auch einfach viel zu massiv sein, um mit heutiger Beschleunigertechnik nachgewiesen zu werden. Beides sind Gründe dafür, warum sich viele Physiker und Kosmologen derzeit von ihr abwenden.