Missing Link: Forschung zum Thema "Religion und digitale Medien"

Kirche und Religionen finden zunehmend auch im Internet statt. Die Auswirkungen bleiben eine spannende Frage für die Zukunft.

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Person an Smartphone und Laptop mit mehreren Bibeln

(Bild: Doidam 10/Shutterstock.com)

Lesezeit: 12 Min.
Von
  • Ulrike Heitmüller
Inhaltsverzeichnis

Einerseits treten reihenweise Menschen aus den Kirchen aus und viele Sonntagsgottesdienste sind gähnend leer. Andererseits haben christliche Influencer und Foren zu Religion und Glauben mit oft mehreren zehntausend Followern und Usern immer mehr Zulauf. Was steht dahinter?

"Abtreibung ist die einzige Operation, die du nicht überleben sollst" steht auf "liebezurbibel", dem Instagram-Account von Jasmin Neubauer. Neubauer ist eine konservative "Christfluencerin", eine Influencerin für die christliche Religion, (sie stellt sich als Theologiestudentin vor, hat aber eine Anfrage, wo genau sie studiere, nicht beantwortet); ähnlich Lisa Repert und Theresa Brückner. Brückner ist allerdings progressiv und studierte Pfarrerin. Auch Gunnar Engel ist Pfarrer, eher konservativ, und hat sich bei Instagram unter dem Pseudonym "pastor.engel" angemeldet.

Aber es gibt nicht nur Instagram-Influencer, sondern auch Reddit-Foren: "Yes, some people go to hell", heißt es unter Nummer acht im rhetorischen Starter-Pack von r/TrueChristian; das progressive Pendant ist r/OpenChristian.

Viele Social-Media-Konten und Internet-Foren als Austauschort zur christlichen Religion entstanden vor zehn, fünfzehn Jahren. Bald waren sie "en vogue", mit steigender Follower- und Userzahl. Seit etwa fünf Jahren berichten immer wieder Medien darüber; gern mit düsteren Warnungen gerade über Christfluencer, etwa der Focus und der "Spiegel".

Interessant ist aber nicht nur, welche Pro- und Contra-Argumente über Regelungen zur Abtreibung ausgetauscht werden oder ob man Sex vor der Ehe haben darf. Vielmehr kann man sich fragen, wie die Influencer das religiöse Leben online gegenüber dem religiösen Leben offline behandeln und was deren Follower und Forenmitglieder eigentlich suchen. Das beschäftigt seit einiger Zeit auch die Wissenschaft.

Dr. Anna Neumaier, Juniorprofessorin am Zentrum für angewandte Pastoralforschung (ZAP) in Bochum, forscht seit weit mehr als zehn Jahren zum Thema; sie wurde damals mit einer Arbeit über "Religion@home? Religionsbezogene Online-Plattformen und ihre Nutzung. Eine Untersuchung zu neuen Formen gegenwärtiger Religiosität" promoviert. Sie arbeitet "ganz klassisch mit qualitativen Methoden", sagt sie, "Textanalyse zum Beispiel."

Sie vergleicht die Ästhetik der Konten der zwei religiösen Influencerinnen Lisa Repert (konservativ) und Theresa Brückner (progressiv) mit dem von Nicole Mattis, die unter mädchenmamasein ihre beiden kleinen Töchter herausputzt und zur Schau stellt: Auf allen drei Konten, egal ob religionsbezogen oder nicht, sieht man pastellige Farben, attraktive Frauen mit etwas – aber nicht zu viel Haut, und lachende Kindergesichter. Auf allen dreien kann man Videos betrachten, die sehr spontan wirken und dabei äußerst professionell gemacht sind.

Diese Instagram-Accounts kommen aus ganz unterschiedlichen Richtungen. Dennoch seien sie einander "ästhetisch oft sehr ähnlich: Auf dieser Ebene gibt es durchaus Gemeinsamkeiten", sagt Neumaier, "eine instagram-typische Ästhetik. Das liegt vor allem an den Logiken der Plattformen und religionsunabhängigen Trends: Religiöse Inhalte ordnen sich anderen Logiken unter bis zur Unkenntlichkeit religiöser Eigenheiten, bei abnehmender Relevanz konfessioneller Charakteristika." Stattdessen arbeiten die Influencerinnen mit "Personalisierung und Privatisierung, es betrifft das Individuelle, wie es üblich ist in den sozialen Medien."

Das scheint als Geschäftsmodell zu funktionieren: Auf Instagram etwa fänden sich auch die Menschen aus der Generation der Anfang 20 bis Anfang 40-Jährigen, "die nicht mehr in die Gemeinden vor Ort gehen, weil sie in der Rushhour des Lebens stehen, mit dem Höhepunkt ihres Engagements in Familie und Beruf." Zweitens fänden sich dort "leichter Menschen, die innerchristliche Positionen vertreten, die sie teilen." Drittens böten sich Influencer an als Inspiration und Identifikationsfläche: "Da wird viel Persönliches preisgegeben, was einen User mit der Person verbindet, es wird Religiosität sehr individuumszentriert verhandelt, es geht um Themen, die das Persönliche weniger abstrakt berühren als manche theologische Diskussion", sagt die Forscherin. Und viertens die Sehgewohnheiten: "Es gibt ein großes Spektrum von Accounts, es gibt alles. Aber der Stil ist eben jüngeren Generationen vertrauter als eine Kanzelpredigt: eine andere Sprache, eine andere ästhetische Gestaltung und so weiter; es ist mehr an die Sehgewohnheiten und Trenderwartungen angeglichen."

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Das hat möglicherweise Folgen für die Follower: Vergleicht man etwa die Accounts von Jasmin Neubauer und Gunnar Engel, zeige sich: Beide Christfluencer sind "jung, gute Sprecher und sie verpacken ihre Botschaften in ein gelungenes Storytelling, also abgeschlossene Erzählungen", beschreibt Neumaier. Und solche Beobachtungen legten einen "Wandel religiöser Autorität" nahe: Auf Instagram gebe es aufgrund der Plattformeigenschaften eher ein "Hierarchiegefälle" mit einem Lehrer und vielen Followern. Auch wenn sich die Legitimationswege unterschieden – ganz traditionell arbeiteten zum Beispiel Influencerinnen häufiger mit Emotionen und Influencer eher mit Wissen und Expertise; zum Beispiel findet sich bei Gunnar Engel eine ganze Serie mit "5 Fakten zum Buch …" xyz aus der Bibel, etwa Nehemia oder Deuteronomium; allerdings eher predigend als wissenschaftlich.

"Es gibt Figuren, die sind für FollowerInnen entscheidend für ihre eigene Religiosität geworden, für die Auslegung von biblischen Textstellen, religiöse Lebensführung und so weiter", sagt Neumaier. Auch wenn die Definition von "religiöser Autorität" nicht so einfach sei: Genügt es, dass jemand behauptet, eine Autorität zu sein, oder hängt es nicht vielmehr von den Konsequenzen ab, die jemand auslöst?! Letzteres liegt ihrer Ansicht nach näher, sie hat Kommentare zu Posts betrachtet und qualitative Interviews geführt; im Januar startet ein frisch eingeworbenes Drittmittelprojekt dazu.

Während sich Accounts etwa auf Instagram um eine Person im Zentrum drehen, geht es in Foren eher um Austausch innerhalb von Gruppen. Reddit hat mehrheitlich User und es gibt keine nennenswerten deutschsprachigen christlichen Subreddits. In Deutschland gibt es etwa klassische Online-Foren oder mykath oder jesus.de, wo man mit dem Button "Dürfen wir für dich beten?" begrüßt wird. Reddit aber ist ein viel größeres Forum, und allein die Subreddits r/TrueChristian und r/OpenChristian haben jedes zigtausende Mitglieder.

Lina Rodenhausen promoviert über Metaphern der Religion in einem Subprojekt zu christlichen Onlineforen; sie arbeitet qualitativ mit close reading und quantitativ mit distant reading. Da sie enorme Textmengen untersucht, wendet sie Topic Modeling an, um die Themen zu identifizieren. Dabei werden Wortlisten von Schlüsselwörtern erstellt, um latente Strukturen in Dokumenten sichtbar zu machen.

Ein bemerkenswertes Ergebnis ist die Unterscheidung zwischen progressivem und konservativem Christentum: "Christen sortieren sich selber auf Reddit in diese beiden Richtungen", sagt sie, "True Christians versus Open Christians, konservative Theologie versus liberale Theologie."

Thematisch gebe es in beiden Richtungen einerseits "übergreifende Inhalte, zum Beispiel Sexualethik", wo die eine Seite etwa queere Identitäten unterstütze und die Gegenseite erkläre, dass sie "so etwas ganz schlimm" finde. Auch Abtreibung sei ein großes, übergreifendes Thema. Solches zeige die Statistik, "manche Wörter kommen überdurchschnittlich häufig und überdurchschnittlich häufig zusammen vor, so dass man daraus schließen kann: Das ist ein wiederholt auftretendes, in sich geschlossenes Thema; bei Abtreibung etwa "abortion", "parents", "baby", "pregnancy", "pro life", "pro choice", aber auch "education". Zusätzlich liest sie sehr viele Posts nach, um diese Wortlisten zu interpretieren und auch "die längstens Threads oder die Posts mit den höchsten und niedrigsten Scores."

Aufschlussreich auch die Kommentare: "Die Threads mit den meisten Kommentaren drehen sich üblicherweise um Sexualität und Genderthemen oder auch Abtreibung, bei diesen Themen sind sich die User innerhalb ihrer Community oft sehr einig", sagt Rodenhausen: Also entweder totale Zustimmung oder entschiedene Ablehnung – und dazu eine hohe Aktivität durch Kommentatoren von außerhalb, "die widersprechen und fangen Streit an."