Missing Link: Hongkong – Geburt und Sterben des freien Internets

Seite 4: Nach der Übergabe Hongkongs

Inhaltsverzeichnis

Sie haben über die politischen Beteiligungsprozesse in Hongkong gesprochen. Haben die sich nach der Übergabe der ehemaligen Kronkolonie an die neuen Herrscher, die Volksrepublik China, geändert?

Wie schon für die Telekom-Liberalisierung geschildert, es ist schwer einen exakten Zeitpunkt zu benennen, an dem die politische Situation sich gewandelt hat. Ich würde sagen, das erste Jahrzehnt unter den vereinbarten Ein-Land-Zwei-Systeme-Regularien war fast Business as usual. Bis vor vier oder fünf Jahren hatte Hongkong noch immer eines der freiesten Internet-Ökosysteme in der Welt. Ich meine, wir waren am freiesten in Asien. Sowohl mit Blick auf die Telekom-Liberalisierung als auch mit Blick auf die Kontrolle von Inhalten. Die von den Briten gestartete Deregulierung lief weiter und noch immer konnte man als ausländisches Unternehmen eine Lizenz erhalten. Darum gab es auch so viele Anbieter aus Europa, aus anderen Teilen Asiens, aus China und den USA. Jeder hatte dort einen Standort. Viele hatten eigene Data-Center und Glasfaserleitungen, Unterseekabel, die nach Hongkong kamen.

Es war ein Hub …

Es war nach wie vor ein Hub, weil das Regulierungsregime sehr leichtgewichtig und einfach zu navigieren war. Wir haben die Regierung gebeten, mehr Land für die Bebauung freizugeben und sie sind uns dabei entgegengekommen. Es lief also ganz gut nach der Übergabe. In Bezug auf Beschränkungen für Inhalte im Netz, das gab es einfach nicht. Wir konnten beobachten, wie in europäischen Ländern wie dem Vereinigten Königreich nach und nach Blacklists entstanden. Bei uns gab es das aus was auch immer für Gründen nicht. Manche halten Verbote für kriminelle Inhalte im Netz, für Webseiten, die Terror propagieren oder Pornografie oder Kindesmissbrauch darstellen, für richtig. Aber Hongkongs Regierung hielt die Füße still.

Gab es denn nicht einen Abbau von Freiheiten direkt nach dem Handover? Was ist mit dem Nationalen Sicherheitsgesetz von 2020? Es stellt sogenannte separatistische und terroristische Inhalte und Aktivitäten unter Strafe.

Zwischen der Übergabe 1997 und etwa 2010 war ich an vielen von der Regierung initiierten Konsultationen beteiligt und ich saß in einer Reihe von Beratungsausschüssen. Ich wurde als IT-Experte geladen, um Empfehlungen im Bereich Technologie, Internet und New Economy auszusprechen. Ich habe selbst eine Menge gelernt in dieser Ausschuss-Arbeit, in Bereichen wie Verbraucherfragen oder öffentliches Gesundheitssystem. Sechs Jahre lang habe ich die Krankenhausaufsicht unterstützt, ihre Klinikmanagement-Systeme neu aufzusetzen. Wir haben beispielsweise intensiv über die Verarbeitung sensibler Patientendaten diskutiert. Obwohl wir also keine Fortschritte bei Hongkongs Wahlsystem machen konnten, gab es in vielen Internet-Bereichen viele Freiheiten und es war uns möglich, Systeme zu verbessern. Ich bin nicht der Ansicht, dass die Regierung immer die richtigen Entscheidungen getroffen hat, aber zumindest hörten sie noch ein wenig auf uns. Es gab für einige Zeit noch Kanäle, um die Politik zu beeinflussen. Heute sind die Zivilgesellschaft und ihre Organisationen verstummt, auch wenn die Regierung sagt, sie würde die Öffentlichkeit konsultieren. Es ist nicht mehr das Gleiche.

Sie kamen erst nach 2010 das erste Mal ins Abgeordnetenhaus. Hat die Exekutive da noch aufs Parlament gehört?

Meine erste Amtszeit begann 2012 und die Situation hat sich danach immer weiter verändert. Es wurden immer mehr Einschränkungen von Rechten vorgeschlagen und als Opposition stellten wir uns gegen mehrere dieser Gesetzesvorschläge der Regierung. Sehr kontrovers war der Regierungsvorschlag zur Änderung des Urheberrechts, das gerade auf dem Tisch des LegCo landete, als ich als frisch gewähltes Mitglied meine Arbeit aufnahm. Die Regierung erklärte uns, dass wir gegenüber anderen Jurisdiktionen in Europa und den USA Nachholbedarf hätten. Man sagte uns, schaut, Deutschland, Großbritannien, Kanada, die USA, alle machen es so. Wie können wir es da anders machen?

Natürlich sind kulturelle und rechtspolitische Traditionen im Westen von denen in Hongkong verschieden. Es gab eine große Kontroverse. Vor allem jüngere Nutzer begannen sich so ab 2010 zu organisieren. Sie forderten von den Abgeordneten, dass sie den Gesetzesvorschlag ablehnen sollten, und sie waren erfolgreich. 2015, am Ende meiner ersten Amtsperiode, haben wir den Vorschlag praktisch durch Endlos-Reden (Filibuster) zu Tode debattiert. Die Regierung zog den Vorschlag zurück. Der Grund für den großen Widerstand in der Bevölkerung war, dass viele fürchteten, die Regierung werde die neuen Kompetenzen nutzen, um Inhalte unter dem Vorwand des Urheberrechts zu kontrollieren. Die Internetnutzer haben der Regierung sehr misstraut.

Ein Argument, das auch in Europa in der Debatte angeführt wird …

Die Angst war einfach, man würde als Krimineller verfolgt werden, weil man eine Karikatur von jemandem anfertigt und argumentiert wird, das sei ein Derivativ eines bestehenden Werks. Man hatte Sorge, dass das gegen politische Proteste eingesetzt würde. Wir sehen genau diese Art von Zensur heute. Es ist einfach, bei YouTube eine Urheberrechtsverletzung zu melden und schon ist der Inhalt verschwunden. Die Menschen in Hongkong hatten genau diese Sorge und sagten nein. Das Lustige ist, ausländische Regierungen, vor allem die USA, befürworteten das Gesetz. Ich nehme an, sie hatten einfach auf die großen Inhalteanbieter wie Disney gehört.

Urheberrechtsverletzungen sollten als Straftat verfolgt werden ...

Ja und Geld- und Haftstrafen angehoben werden. Wir sahen Mängel, weil das Fair-Use-Prinzip nicht mehr geschützt war. Der Streit um das Urheberrecht war eine der wenigen Gelegenheiten, in denen wir unsere Macht als Minderheit im Parlament ausspielen konnten. Ich denke, es wird Menschen geben, die sowohl das Ergebnis als auch unsere Taktik für falsch halten. Aber so etwas gehört zur repräsentativen Demokratie. Ich nehme an, die Regierung in Peking hat den Vorgang legislativen Widerstands als inakzeptabel empfunden. Wir konnten die Regierung daran hindern, ihre Macht auszuüben. Vielleicht hat es rückblickend betrachtet auch dazu beigetragen, dass die Regierung darauf bedacht war, eigene Kontrolle wiederherzustellen. Aber viele von uns haben an diesem Beispiel auch gelernt, wie wir unsere demokratischen Rechte in einem System ausüben können, dessen Wahlsystem nicht wirklich demokratisch war.

Können Sie das Wahlsystem erklären? Sie saßen praktisch für die IT Wirtschaft im LegCo?

Ich war ein Repräsentant der sogenannten funktionalen Constituencies. Es gab mehrere Industrie-Sektoren, die eigene Mitglieder ins Parlament entsenden konnten, zusätzlich zu den in den lokalen Distrikten allgemein gewählten Abgeordneten. Die Transportbranche, der Tourismus und viele andere. Einige dieser Constituencies waren klein, zum Beispiel gibt es nur 200 Bankenlizenzen in Hongkong. In manchen wird dann direkt gewählt, in anderen sind nur Verbände wahlberechtigt. Während also der Bereich Landwirtschaft 100 Stimmen hatte, die die verschiedenen Landwirtschaftsverbände vertreten, hatten wir im IT-Bereich 20.000 Wähler. Bei uns konnte jeder wählen, der Mitglied in einer Berufsorganisation war. Es war also immer noch beschränkt, sonst hätten wir vermutlich 100.000 Wähler gehabt. Ich war damals der Ansicht, das eigentliche Ziel sollte sein, dass wir das System in Richtung allgemeines Wahlsystem weiter entwickeln sollten, in dem jeder Bürger einfach eine Stimme hat. Das System mit den Constituencies war nicht fair, denn manche, wie wir in der IT, bekamen eine zweite Stimme. Einfache Arbeiter, Installateure etwa oder Hausfrauen dagegen hatten keine Zweitstimme.

Sie wurden zweimal gewählt von der IT-Constituency. Wie haben sich die beiden Amtszeiten unterschieden? Wie hat sich das politische Klima verändert?

Während meiner ersten Amtszeit gab es die Umbrella-Bewegung (benannt nach den bei den Demonstrationen gegen die Polizei aufgespannten Schirmen, es ging um die Einführung eines Screening von Wahlkandidaten). Die Proteste starteten 2014. Während meiner zweiten Legislaturperiode brachen die Proteste gegen das Auslieferungsgesetz aus. Das war 2019 und 2020 und natürlich am 20. Juli 2020 setzte die Regierung, in Wirklichkeit die Regierung in Peking, das Nationale Sicherheitsgesetz in Kraft. Die politische Szene hat sich innerhalb kürzester Zeit völlig verändert. Die politischen Gräben wurden sehr tief. In diesen zweiten vier Jahren waren die Zeichen erkennbar, dass Peking rigoros durchgriff. Sie waren noch nie wirklich offen, aber in dieser zweiten Amtszeit, haben sie kurzen Prozess gemacht und Dinge sehr schnell durchgesetzt, ohne Rücksicht darauf, was die Bürger denken, ohne Rücksicht auf die Meinungen in Hongkong oder auch international. Das war eine ziemlich klare Sache.

Einige ihrer Kollegen wurden vor Gericht gestellt und wegen Verstößen gegen das Sicherheitsgesetz angeklagt …

Lassen Sie mich die Situation im Juli 2020 erklären. Meine Amtszeit war eigentlich 2020 beendet und ich hatte entschieden, dass ich nicht wieder antrete. Ich wollte die Jüngeren ans Ruder lassen, den Stab weitergeben sozusagen. Aber die Regierung entschied im Juli, dass sie wegen Covid die Wahl nicht abhalten würden. Wir hatten eher den Eindruck, man nutze Covid als Ausrede. Zugleich fragte die Regierung die Mitglieder des Parlaments, Regierungsanhänger und Opposition, ob sie einer Verlängerung ihrer Amtszeit um ein Jahr zustimmen. Auch die Kollegen, die wie ich aufhören wollten, entschieden also gemeinsam, dass wir noch ein Jahr bleiben würden. Aber im November entschied die Regierung, dass sie vier Kandidaten, die sich schon für die nächste Wahlperiode beworben hatten, nicht zur Wahl zulassen würden. Sie wurden nicht verhaftet oder so, sondern ihnen wurde eine Kandidatur verweigert. Die Regierung erklärte zugleich, da sie von der nächsten Wahl ausgeschlossen seien, könnten sie auch das noch laufende Jahr nicht im Amt bleiben.

Mit welcher Begründung wurden sie nicht zur Wahl zugelassen?

Es wurden eine ganze Reihe von Gründen angegeben, lauter politische Gründe. Die Entscheidung zeigte, dass die Regierung neue Befugnisse nutzte, um gegen die Opposition vorzugehen. In den ersten 10 Jahren des Ein-Land-zwei-Systeme-Mandates wurden Leute ausgeschlossen, wenn sie falsche Angaben zu ihrem Alter oder ihrer Staatsbürgerschaft gemacht hatten, solche Dinge. Aber jetzt nutzten sie klar ein politisches Screening, um zu entscheiden, wen sie draußen haben wollten.

und wurde das Nationale Sicherheitsgesetz gegen sie eingesetzt …

Nein. Es wurde erklärt, sie wären nicht loyal der Regierung gegenüber und daher müssten sie disqualifiziert werden. Die Regierung sagte, wir glauben nicht, dass ihr ehrlich seid, wenn ihr den Amtseid ablegt. Sie sagten den Leuten praktisch, was sie dachten. Mit dieser Art von Argumenten wurden unsere vier Kollegen also ausgeschlossen und der Rest von uns entschied dann, dass wir gemeinsam zurücktreten. Wir blieben also kein weiteres Jahr und die meisten von uns sind auch wirklich sehr schnell gegangen.