Missing Link: Kollaps der Newton-Einstein-Gravitation oder hat Einstein fertig?

Seite 4: Ein paar Körner Salz

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5,3 und 10σ klingen zwar beeindruckend, gehen aber davon aus, dass eine Abweichung vom angenommenen Wert nur durch zufällige Messfehler zustande käme, nicht jedoch durch systematische Fehler – in diesem Fall kann sich die behauptete Signifikanz sofort in Wohlgefallen auflösen. Es fragt sich, ob Chaes Analyse wirklich frei von systematischen Fehlern ist.

Zunächst einmal ist anzumerken, dass diese Arbeit nicht im luftleeren Raum steht, sondern andere Autoren zuvor ähnliche Analysen derselben Gaia-Daten durchgeführt haben und zu unterschiedlichen Resultaten kamen. Chaes Arbeit hat allerdings für weit größeres Aufsehen in der Presse gesorgt, wohl weil seine Wortwahl so martialisch war – "Zusammenbruch der Newton-Einstein-Gravitation", 10σ etc.

So kamen Hernandez, Cookson und Cortés 2021 zu dem Ergebnis, dass sich die weiten Doppelsterne nicht auf Newton-Bahnen, aber auch nicht gemäß MOND umeinander bewegen. Im Mai 2022 fanden Pittordis und Sutherland ebenfalls auf der Basis der Gaia-DR3-Daten hingegen, dass Newton die weiten Doppelsterne sehr wohl hervorragend modelliert und scheinbare Abweichungen vom Newton-Modell auf Sterne zurückgeführt werden können, die aus dem gleichen Sternentstehungsgebiet stammend mit gemeinsamer Grundgeschwindigkeit unterwegs sind und somit als zusammengehörig erscheinen. Tatsächlich fliegen sie jedoch mit mehr als der Fluchtgeschwindigkeit ihrer Umlaufbahn nur gerade zufällig nahe aneinander vorbei, ohne tatsächlich gravitativ aneinander gebunden zu sein. Die Inklusion solcher falsch positiven Doppelsterne würde die Mittelwerte der ermittelten Raumgeschwindigkeiten nach oben ziehen, was höhere Bahngeschwindigkeiten und somit Gravitation vortäuschte. Daher beschränkten sich Pittordis und Sutherland bei ihrer Analyse auf Sterne mit den geringeren relativen Geschwindigkeiten zueinander, d.h. in eher großer Distanz voneinander, was Chae wiederum als Schwäche ihrer Arbeit sieht, weil dadurch die Möglichkeit der Selbstkalibrierung des Anteils von Mehrfachsystemen verloren gehe, die das besondere an seiner Analyse sei.

Die Selbstkalibrierung ist bei näherer Betrachtung jedoch nicht besonders überzeugend, denn bei den unterschiedlichen betrachteten Modellierungsvarianten ergeben sich immer wieder völlig andere Häufigkeiten für die unentdeckten Komponenten im System: für Sterne bis 80 pc ohne Beschränkung auf solche mit geringen Messfehlern in den Eigenbewegungen kommt er auf 0,43, bis 200 pc hingegen auf 0,65. Bei Beschränkung auf Sterne mit genaueren Eigenbewegungen liegen die Werte bei 0,39 bzw. 0,55. Mit genaueren Massen aus dem FLAME-Katalog ist der selbstkalibrierte Anteil der Mehrfachsystem nur noch 0,25 bzw. 0,43, für eine Analyse mit besonders engen unsichtbaren Partnern sind es wiederum 0,50 und 0,80. 80 Prozent! Abgesehen von Auswahleffekten für Systeme mit tatsächlich höherem Anteil an versteckten Partnern, die in manchen der Analysen (wie der letztgenannten) eine Rolle spielen mögen, gibt es in der Realität nur einen einzigen korrekten Wert für den Anteil der Mehrfachsysteme und wenn dieser Parameter so stark streut, spricht dies nicht für die Glaubhaftigkeit der Analysen, die Messung und Simulation immer wieder unterschiedlich kalibriert einander gegenüber stellen um dann zum vom Autor propagierten Ergebnis kommen. Zudem erscheint die 40 Prozent-30 Prozent-30 Prozent-Auswahl für die Verteilung der unsichtbaren Begleiter auf die Einzelsterne bzw. beide zusammen willkürlich – wenn nicht einmal der Anteil der versteckten Partner bekannt ist, wie kann man dann angeben, wie sie sich auf die sichtbaren Komponenten verteilen? Und dann gibt es Systeme wie Mizar-Alkor mit nicht einem oder zwei, sondern 4 versteckten Partnern. Selten? Castor in den Zwillingen ist ebenfalls sechsfach. Diese beiden Fälle finden sich bereits unter den 100 hellsten mit bloßem Auge sichtbaren Sternen.

In seiner Arbeit benennt Chae sogar selbst einen unterschiedlichen Anteil von Mehrfachsystemen bei engeren versus weiteren Doppelsternsystemen als (einzige!) alternative Erklärung für die scheinbare Abweichung vom Newton-Modell bei den weiten Doppelsternsystemen. Weite Systeme könnten bei gleicher Leuchtkraft der Sterne systematisch mehr Masse in Form verborgener Partnersterne als engere Systeme mitbringen. Es ist nämlich durchaus plausibel, dass der Anteil der Mehrfachsysteme bei weiten Doppelsternen höher ist, denn der heute weit entfernte Partner könnte ursprünglich ein enger Begleiter gewesen sein, den ein unsichtbarer Partner bei einer nahen Begegnung aus dem inneren System hinauskatapultiert hat. Dieses Szenario ist wahrscheinlicher, wenn der unsichtbare Begleiter besonders massiv ist und viel Energie übertragen hat, aufgrund dessen der herauskatapultierte Stern besonders weit entfernt endete.

Ein anderes Problem ist die Bestimmung der Sternmassen nur aufgrund der Leuchtkraft der Sterne gemessen durch ein einziges Farbfilter. Wie eingangs erwähnt entwickeln sich Sterne im Laufe ihres Lebens und werden bei gleichbleibender Masse allmählich immer heller. Im FLAME-Katalog von Gaia werden die Massen einer Auswahl von Sternen unter Berücksichtigung der fortschreitenden Sternentwicklung, die an der Farbe ermessen werden kann und zu deren Bestimmung die Helligkeiten durch beide Farbfilter von Gaia eingesetzt werden, besser approximiert. Und siehe da, für 80 pc Entfernung rutscht die Newton-Gravitation wieder in den 1-σ-Bereich der Streuung, während AQUAL kaum mehr besser abschneidet. Für 200 pc liegt AQUAL dann sogar außerhalb einer Standardabweichung.

Eine andere Modellvariante, die sich auf Sterne beschränkt, deren Massen im Gaia DR3 FLAME-Katalog unter anderem unter Berücksichtigung der Sternentwicklung genauer bestimmt wurden, ändert das Ergebnis beträchtlich. Sowohl Newton als auch AQUAL liegen für die Sterne bis 80 pc Entfernung innerhalb einer Standardabweichung vom Mittelwert der Mediane, der für alle Beschleunigungen etwa in der Mitte zwischen Newton und AQUAL liegt. Anders ausgedrückt nähern beide Modelle die Daten ungefähr gleich gut an. Nur bei den Sternen bis 200 pc und geringerer Genauigkeit der Gaia-Messungen schneidet AQUAL tendenziell etwas besser ab, liegt aber für die kleinsten Beschleunigungen nicht einmal mehr selbst innerhalb einer Standardabweichung der Median-Streuung. Der selbstkalibrierte Anteil von Mehrfachsystemen fmulti ist hier deutlich kleiner als im Bild zuvor. Dass eine genauere Bestimmung des Masseparameters die Signifikanz der Behauptung deutlich verschlechtert, sollte nachdenklich stimmen.

(Bild: The Astrophysical Journal, CC BY 4.0)

Ein weiterer systematischer Fehler könnte sich ergeben, wenn die weiteren Doppelsterne auf stärker exzentrischen Bahnen unterwegs sind als im Hwang-Katalog angenommen, auf den Chae sich vollkommen verlässt. Und das, obwohl Hwang auch keine besseren Daten als die aus dem 3. Gaia-Datenrelease zur Verfügung stehen, und die lassen für jeden konkreten Einzelfall nun einmal nicht die Bestimmung einer auch nur annähernden Bahnform zu. Chae hat zudem bewusst die exzentrischsten Bahnen ausgeschlossen, weil er sie für Messfehler hält, was die Statistik verfälscht. Sehr exzentrische Bahnen ergeben sich einerseits durch das eben beschriebene Szenario des Herauskatapultierens, bei dem ein Stern wie beim Swing-By-Manöver einer Raumsonde beim Vorbeiflug an einen anderen Stern Energie von diesem aufnehmen kann. Die Orbitalmechanik verlangt dann, dass der Stern, wenn er die Fluchtgeschwindigkeit des Systems nicht überschreitet, wieder zum Tatort zurückfallen muss, weil er sich vom Hauptstern nahezu radial entfernt, wie ein nach oben geworfener Stein, der wieder zum Werfer zurückfallen muss. Dies bedeutet, dass er auf einer langgezogenen schmalen Umlaufbahn mit hoher Exzentrizität endet (so wie das für die Kometen in der Oortschen Wolke um das Sonnensystem herum angenommen wird, die Jupiter einst dorthin katapultiert hat). Die Bahn des Sterns kann nur dann "zirkularisiert" werden, wenn die Schwerkraft anderer Nachbarsterne in der Ferne auf ihn wirkt und ihm einen kleinen Schubs in die richtige Richtung gibt – dort draußen ist die Schwerkraft des Hauptsterns klein, so dass es nur einer kleinen Störung bedarf, um die Bahnform stark zu verändern, was vor allem das Periastron beeinflusst und stark anheben kann. Dabei kommt sicherlich keine perfekte Kreisbahn zustande, und selbst wenn, würde sie es aufgrund weiterer Störungen durch die stellare Nachbarschaft nicht lange bleiben. Im folgenden Bild aus der Arbeit sieht man tatsächlich den Trend zu höheren Exzentrizitäten bei zunehmender Umlaufzeit (und damit Entfernung).

Exzentrizitäten der Umlaufbahnen von weiten Doppelsternen über dem Logarithmus ihrer Umlaufzeit in Tagen (2 ≙ 100 Tage, 6 ≙ 1 Million Tage = 2740 Jahre, 9 ≙ 1 Milliarde Tage = 2,74 Millionen Jahre). Die verschiedenfarbigen Punkte mit den Fehlerbalken stammen aus unabhängigen Arbeiten und werden durch die blaue gestrichelte Gerade approximiert. Die grauen Streupunkte im rechten Teil des Bildes entsprechen einem virtuellen Monte-Carlo-Durchlauf des Autors für Sterne bis 80 pc Entfernung und mit Distanzen der Doppelsternpartner zwischen 200 und 30.000 AE. Die schwarzen kurzen Linien entsprechen den Mittelwerten der Streupunkte über die Umlaufzeiten (durchgezogene Linie) bzw. einer Approximation für die stärksten Exzentrizitäten (gestrichelte Linie). Erstens sieht man klar, dass die Exzentrizität mit der Distanz der Doppelsternpartner zunimmt und zweitens, dass der Trend der Simulation des Autors flacher verläuft als der Daten-Fit durch die Werte aus anderer Literatur, d.h. er unterschätzt vermutlich die Exzentrizität bei großen Distanzen.

(Bild: The Astrophysical Journal, CC BY 4.0)

In der obigen Grafik der Exzentrizitäten kann man nun erkennen, dass Chaes Trend aus der Monte-Carlo-Simulation (schwarze kurze Linien) flacher verläuft als derjenige aus anderer Literatur (blaue gestrichelte Gerade). Bei Chae sind ferne Bahnen also systematisch weniger exzentrisch.

Wie bereits erläutert zeichnen sich elliptische Umlaufbahnen dadurch aus, dass sich die Sterne aufgrund des 2. Keplerschen Gesetzes auf ihnen die längste Zeit ihres Umlaufs in der Gegend des Apastrons, des fernsten Punkts auf der Bahn, aufhalten, weil sie dort am langsamsten unterwegs sind. Je größer die Exzentrizität ist, desto langsamer bewegen sie sich dort und umso mehr Zeit verbringen sie in der größten Distanz zum Hauptstern.

Die Bahn des weißen Zwergs Sirius B um den hellen Hauptstern zeigt anhand der Jahres-Marken das 2. Keplersche Gesetz, demnach ein Objekt auf der Bahn in der Nähe des Periastrons pro Zeiteinheit einen größeren Winkel zurücklegt als in der Nähe des gegenüberliegenden Apastrons. Zwischen 2040 und 2048 wird hier beispielsweise in 8 Jahren ein Winkel von mehr als 180° durchlaufen, zwischen 2020 und 2030 hingegen in 10 Jahren nur einer von ca. 20°. Wenn man zahlreiche Doppelsterne zu zufälligen Zeiten betrachtet, ist daher nicht zu erwarten, dass sie gleichmäßig über ihre Bahnen verteilt sind, sondern sie werden häufiger in Apastron-Nähe zu finden sein. Dies ist übrigens der Grund, warum der Nord-Sommer auf der Erde vom 21. Juni bis 22. September (93 Tage) länger ist als der Nord-Winter vom 21. Dezember bis 20. März (90 Tage), denn die Erde ist am 3. Januar im sonnennächsten Punkt, dem Perihel, und am 4. Juli im gegenüberliegenden Aphel.

(Bild: Wikimedia Commons, gemeinfrei)

Für die Newton-Simulation, bei der die Raumgeschwindigkeit zunächst außer Acht gelassen und nur die Entfernung betrachtet wird, bedeutet dies, dass Chae den Stern im Mittel auf einer weiteren Umlaufbahn wähnt, weil er ihn häufiger wenige nahe am Apastron simuliert. Damit schreibt er ihm eine höhere Bewegungsenergie zu (denn der Stern wird sich seiner Annahme nach ja noch weiter entfernen oder kommt auf dem Rückweg von weiter entfernt her) und kommt so auf eine höhere mittlere Bahngeschwindigkeit und damit Schwerebeschleunigung, als der Stern sie tatsächlich hat. Damit zeichnet er die blauen Punkte und ihre Mediane im Diagramm zu weit rechts (die Kreisbahnbeschleunigung auf der y-Achse hängt nur von der Entfernung ab und ändert sich nicht). Die wahren Mediane für die Newton-Simulation auf stark elliptischen Bahnen sind also weiter nach links verschoben zu erwarten, wenn man die korrekte Exzentrizität zugrunde legte.

Was die roten Punkte betrifft, die auf den von Gaia gemessenen Eigenbewegungen beruhen, so spiegeln diese dementsprechend eher die niedrigsten Apastron-Geschwindigkeiten wider als die höheren Geschwindigkeiten etwas mehr abseits davon. Höhere Apastron-Geschwindigkeiten gehören in der Realität zu kleineren Umlaufbahnen als in Chaes Deprojektion angenommen, mit im Mittel geringerer Entfernung und höherer Schwerebeschleunigung als bei einer gleichmäßigen Verteilung des Orts auf der Bahn, das heißt, die roten Punkte kommen bei Chae zu geringeren Beschleunigungen verschoben heraus und müssten dementsprechend nach rechts verschoben werden.

So könnten für den Fall, dass weite Umlaufbahnen systematisch elliptischer sind, die roten und blauen Mediane am Ende auf einer Linie zu liegen kommen und die Diskrepanz zwischen Newton-Simulation und Messungen könnte sich – möglicherweise! - in Luft auflösen.

Dies ist natürlich nur eine qualitative Anmerkung, den quantitativen Nachweis (des Gegenteils) müsste der Autor führen.

Wie damit klar geworden sein dürfte, sind Newton und Einstein zwar nicht als Personen, wohl aber verkörpert durch ihre Schwerkrafttheorien weiterhin quicklebendig und Gerüchte, der Nachweis des Zusammenbruchs ihrer Theorien sei erbracht worden, stark übertrieben. Die Bestimmung der Umlaufbahnen weiter Doppelsterne ist auch auf der Basis der hervorragenden Gaia-DR3-Daten immer noch ein schwieriges Problem, in dessen Lösung wie hier dargelegt viele Annahmen einfließen müssen, und die können im Einzelfall auch falsch sein. Deshalb kommen unterschiedliche Autoren mit derselben Datenbasis zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen. Aber so funktioniert Wissenschaft – wenn das Problem einfach wäre, dann wäre es schon längst gelöst.

Laut der britischen Astrophysikerin Becky Smethurst befindet sich derzeit eine Arbeit in der Begutachtung, die eine statistische Analyse der Gaia Daten beinhalten soll, inwiefern diese von systematischen Fehlern betroffen sind, und die unter Berücksichtigung des entsprechenden Bias eine Neubewertung der Methodik vornehmen soll, MOND-Theorien anhand weiter Doppelsterne nachzuweisen. Interessanterweise stammt die Arbeit von einer Gruppe von Forschern, denen Chae selbst angehört hatte und die ursprünglich MOND propagiert hatte, die sich aber kürzlich davon abgewendet und kritisch geäußert hatte. Man darf gespannt auf die Veröffentlichung sein, auch wenn ihr Medienecho voraussichtlich kleiner ausfallen dürfte.

(mho)